Düsseldorf – Es gibt in dem sehenswerten WDR-Dokumentarfilm „Der Weg an die Macht“ über Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und SPD-Herausforderer Thomas Kutschaty eine Szene, die besser als viele wissenschaftliche Aufsätze illustriert, warum das größte Bundesland fast unregierbar geworden ist.
Der aus der westfälischen Kleinstadt Rhede stammende Wüst zeigt darin der Autorin hemdsärmelig („Stehense ma auf! Guckense ma!“) sein „Deskbike“ in der Staatskanzlei, eine Art Schreibtischstuhl mit Pedalen. Stolz bilanziert er: „Ein bisschen Münsterländer Fahrradfahren im Düsseldorfer Büro.“
Die Sequenz machte sogleich Karriere in den sozialen Netzwerken. Wüst wurde dort mit der Chef-Karikatur „Stromberg“ aus der gleichnamigen Fernsehserie verglichen. Das Urteil des digitalen Schnellgerichts: peinlich und provinziell.
Verständlichkeit von Wahlprogrammen
Wortungetüme, Fremdwörter und überlange Bandwurmsätze machen die Wahlprogramme der Parteien zur Landtagswahl in NRW laut einer Studie für viele Menschen schwer verständlich. Begriffe wie „One-Stop-Agency“ (CDU) oder „Hyperscaler“ (SPD) bleiben für viele Wähler damit faktisch ebenso nichtssagend wie „Bürger*innenmedien-Kompetenzprojekte“ (Grüne) oder auch das „Cashcamp“ der FDP, wie eine Analyse der Uni Hohenheim ergeben hat. „Seit der letzten Wahl haben die Parteien nicht dazu gelernt“, hieß es. (dpa)
In Köln-Ehrenfeld, Düsseldorf-Unterbilk oder Essen-Rüttenscheid, den urbanen Milieus in NRW, mag man sich über die latente Junge-Union-Attitüde Wüsts amüsieren. In Düren, Pulheim-Stommeln oder Mechernich-Kommern, wohin den Ministerpräsidenten seine jüngste Wahlkampftour führte, wird er dagegen von einem zumeist älteren Publikum dankbar beklatscht.
Wüst, 46-jähriger Rechtsanwalt mit Eigenheim auf elterlichem Grundstück und passionierter Jäger mit Vorliebe für Bratwurst, ist hier als Junge vom Land herzlich willkommen. Eine Art Gegenentwurf zur Latte-Macchiato-Fraktion der Studentenstädte, die gendert und Lastenrad fährt.
Ein Bundesland im Wandel
NRW hatte in den vergangenen 20 Jahren sechs Ministerpräsidenten. Dreimal wechselte in dieser Zeit die Macht zwischen SPD und CDU hin und her. Auch diesmal dürfte es Wüst einige Energie kosten, sein Amt zu verteidigen. Die „Herzkammer der Sozialdemokratie“, wie Herbert Wehner das Land taufte, ist seit der Regentschaft Johannes Raus längst ein „Swing State“ geworden. Alte Gewissheiten lösen sich genauso schnell auf wie frühere Parteibindungen.
Das einst „rote“ Ruhrgebiet mit Millionen von Industriearbeitern ist heute Deutschlands größte und multikulturellste Dienstleistungsmetropole. Dafür schlägt das Industrieherz des Landes inzwischen im dünn besiedelten Süd- und Ostwestfalen. Ehemals tief schwarze Bischofsstädte wie Aachen und Münster sind nunmehr Hochburgen der Grünen. Und die einzige NRW-Millionenstadt Köln ist teuerster, beliebtester und liberalster Wohnort für viele Kreative.
Vermitteln als Kernkompetenz im bevölkerungsreichsten Bundesland
Der schon in der Gründungsgeschichte angelegte Identitätskonflikt des „Bindestrich-Landes“ hat sich zu einer politischen Herkulesaufgabe ausgewachsen: Wie soll man bloß Stadt und Land, Westfalen und Rheinland, Alt und Jung, Akademikern und Facharbeitern, Brennpunkten und Boomstädten gleichermaßen gerecht werden? Ist ein Landesvater oder eine Landesmutter noch vorstellbar, hinter dem oder der man sich dauerhaft versammelt?
CDU in Umfrage vorn
Kurz vor der NRW-Wahl deutet eine neue Umfrage auf einen knappen Vorsprung der CDU hin. In einer Insa- Erhebung im Auftrag der „Bild“ kommt die Partei von Ministerpräsident Hen-drik Wüst auf 31 Prozent, die opposi-
tionelle SPD erreicht 29 Prozent. Drittstärkste Kraft wären mit 16 Prozent die Grünen. Es folgen die FDP mit acht und die AfD mit sieben Prozent. Die Linke würde mit drei Prozent den Einzug in den Landtag verpassen. (dpa)
NRW mit 18 Millionen Einwohnern und 13 Millionen Wahlberechtigten, das für sich die sechstgrößte Volkswirtschaft der EU wäre, brauche einen Regierungschef „mit einem Hang zu Brückenbauen“, hat der Landeshistoriker Guido Hitze einmal analysiert. In einem so großen und gegensätzlichen Land müsse man ein „Vermittlungs-Gen“ in der politischen DNA tragen.
Hendrik Wüst zeigt Anpassungsfähigkeit
Ob Wüst, der erst im Oktober als Machterbe des unglücklichen Kanzlerkandidaten Armin Laschet in die Staatskanzlei einzog, das Zeug dazu hat? Ein Amtsbonus ist laut Umfragen kaum messbar. Dabei bemüht sich Wüst unverkennbar, seine Jugendjahre als konservativer Haudrauf vergessen zu machen.
Er gibt sich notorisch präsidial, formuliert vorsichtig und nimmt ideologischen Großkonflikten die Spitze. Wüst ist jetzt auch für zwölf Euro Mindestlohn. Den vorgezogenen Kohleausstieg 2030 macht er sich zu eigen, obwohl er lange ein anderes Lied sang. Und als interner Kritiker von Merkels Flüchtlingspolitik 2015 ließ er neulich im Landtag aufhorchen, als er den Ukrainern in NRW mit einem Merkel-Zitat Hilfe versprach: „Wir schaffen das.“
Der CDU-Chef will auch persönlich Anschlussfähigkeit demonstrieren: Er hat eine Zweitwohnung in Düsseldorf, nimmt schon mal das Fahrrad und lässt selten unerwähnt, was für ein moderner Familienvater er sei. Die Staatskanzlei flutet die sozialen Netzwerke mit Bildchen von allerlei Repräsentationsterminen, die zeigen sollen, dass Wüst an Rhein und Ruhr einfach mit jedem kann.
Entscheidet der Bundestrend?
Alle Biegsamkeit hilft jedoch wenig, wenn sich in einem Bundesland alle paar Jahre die Agenda komplett ändert. 2017 wurde Rot-Grün aus dem Amt gejagt, weil NRW als abgewirtschaftetes „Schlusslicht-Land“ galt. Heute ist Rot-Grün wieder die beliebteste Koalition, eine Mehrheit wünscht sich eine SPD-geführte Landesregierung. NRW-Wahlen gelten stets als „kleine Bundestagswahlen“ und die Düsseldorfer Politik kann sich schwerer von bundespolitischen Megatrends abkoppeln als andere Länder. Herausforderer Kutschaty setzt trotz aller Kanzler-Kritik auf den „Scholz-Schub“, der SPD-Traditionswähler wieder an die Urne treiben soll.
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