Andrij Melnyk„Unsere EU-Freunde sollten der Ukraine viel stärker militärisch unter die Arme greifen“

Lesezeit 9 Minuten
Im Zeichen des V: Andrij Melnyk, früherer Botschafter in Deutschland, posiert auf einem Selfie vor einer Skulptur mit der Aufschrift „Kiew“ an der Autobahn in die ukrainische Hauptstadt.

Im Zeichen des V: Andrij Melnyk, früherer Botschafter in Deutschland, posiert auf einem Selfie vor einer Skulptur mit der Aufschrift „Kiew“ an der Autobahn in die ukrainische Hauptstadt. Derzeit ist er als Diplomat in Brasilien eingesetzt.

Muss die Ukraine ihr Kriegsziel ändern? Der streitbare Diplomat über den Unterschied zwischen Erfolg und Sieg, über den Alltag an der Front – und darüber, wie er anderthalb Jahre nach seinem Abschied aus Berlin die Rolle Deutschlands sieht.

Nach langen Wochen voller Hiobsbotschaften gibt es in diesen Tagen mal wieder gute Nachrichten für die Ukraine: Nach dem US-Repräsentantenhaus hat in der Nacht zu Mittwoch auch der US-Senat milliardenschwere Militärhilfen für Kiew bewilligt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj jubelte über eine „Lösung, die Leben retten wird“. Ob die Unterstützung rechtzeitig kommt und reichen wird, um einer befürchteten neuen russischen Offensive standzuhalten, steht aber in den Sternen. Die Lage der ukrainischen Armee ist jedenfalls nach Einschätzung vieler Beobachter schlicht verzweifelt.

Andrij Melnyk versucht trotzdem, Zuversicht zu verbreiten. Nicht nur in der Öffentlichkeit, auch bei seiner Mutter, die in Lwiw wohnt und sich vor den russischen Raketen fürchtet. Jeden Tag sage er ihr am Telefon: „Am dunkelsten ist die Nacht vor der Dämmerung“, erzählt Melnyk. Im Video-Interview ist der Diplomat im weißen Hemd mit Krawatte, aber ohne Jackett zu sehen: Der frühere Botschafter in Berlin residiert neuerdings in der brasilianischen Hauptstadt Brasília. Im Hintergrund sieht man einen sonnenbeschienenen Innenhof mit Palmen.

Herr Botschafter, was ist die jüngste Information, die Sie von der Front erhalten haben?

Alles zum Thema Russisch-Ukrainischer Krieg

Mein bester Freund ist gerade an der Front. Er hat mir, so wie viele andere Bekannte auch, geschrieben, dass es ihnen an Ausrüstung fehlt, dass sie massiv Munition sparen müssen. Besonders fehlen ihnen gerade radioelektronische Antidrohnen-Gewehre und Störsender, mit denen der einzelne Soldat eine Drohne, die sich ihm nähert, zur Landung zwingen kann. Die Russen setzen vermehrt kleine Kamikaze-Drohnen ein, gar nicht mehr in erster Linie gegen irgendwelche schweren Kriegsgeräte, sondern gegen einzelne Soldaten. Die sind wirklich tödlich. Vor ihnen kann man sich nicht verstecken, nicht mal im Schützengraben. Die Front ist heute quasi durchsichtig: Beide Seiten haben die Möglichkeit, sich aus der Luft mit Drohnen zu beobachten. Alles liegt völlig offen da. Die Auflösung dieser Bilder ist so gut, dass man die Gesichtszüge eines einzelnen Soldaten sehen kann, und dabei fliegt die Drohne so hoch, dass er selbst sie gar nicht bemerkt.

Wie bekommen Sie diese Nachrichten?

Wir schreiben über WhatsApp. Das Problem ist nur: Ein Soldat ist ja nur eine gewisse Zeit an der Frontlinie. Sie heißt „Null-Linie“, man sagt das auch so, man ist „auf der Null“. Und dorthin darf man sein Handy nicht mitnehmen. Das heißt, zwei, drei Tage lang hören Sie nichts. Wenn die Soldaten dann wieder zurückkehren und sich erholen, fünf, zehn Kilometer von der Linie entfernt, gibt es wieder eine Nachricht, „alles in Ordnung, bin wieder da, wir hatten eine Aufgabe“. Man muss immer einige Tage bangen. Das geht uns allen so. Dieses ewige Warten ist schrecklich.

Vizekanzler Robert Habeck war gerade in Kiew und hat gesagt, dass Deutschland bei der Unterstützung der Ukraine eine Führungsolle einnehmen will. Sie haben der Regierung in Ihrer Zeit als Botschafter in Berlin immer wieder vorgeworfen, zu zögerlich zu sein, oft auch in heftigen Worten. Müssen Sie jetzt Abbitte leisten?

Das glaube ich nicht. Nach der „Zeitenwende“-Rede des Bundeskanzlers am 27. Februar 2022 geschah ja lange Wochen gar nichts. Nach vereinzelten Waffenlieferungen von Anti-Panzer-Raketen verfestigte sich dann das Narrativ: Die Bundeswehr habe selber zu wenig, man könne nichts mehr tun. Ich wusste, dass das nicht stimmte. Wenn ich da nicht lautstark geschrien und nicht mehr verlangt hätte, vor allem schwere Waffen wie die Panzerhaubitze 2000, Mehrfachraketenwerfer oder Kampfpanzer, wäre das vielleicht bis heute so. Natürlich haben sie in Berlin jetzt das Gefühl von Genugtuung, sie täten viel für die Ukraine, und das ist gut so. Aber auch wenn Deutschland jetzt an Position zwei der größten Unterstützerländer ist, wissen wir alle, und Herr Habeck hat es gerade mit eigenen Augen gesehen: Es ist bei weitem nicht genug. Vor allem, was die Luftverteidigung betrifft.

Für den Fall, dass Donald Trump die Wahl gewinnt, rechnen alle damit, dass die USA ihre Unterstützung für die Ukraine zurückfahren wird. Welche direkten Kontakte hat die ukrainische Regierung schon jetzt zu ihm und seinem Umfeld?

Natürlich gibt es sehr viele vertrauliche Gesprächskanäle, nicht nur über unsere Botschaft in Washington. Ich persönlich unterhalte auch Kontakte zu einigen wichtigen Leuten aus dem Trump-Lager. Dazu gehört ein früherer US-Kollege als Botschafter in Berlin, den viele Deutsche wahrscheinlich noch in eher schwieriger Erinnerung haben, mein Freund Richard Grenell. Er ist heute noch ein wichtiger Akteur. Manche sagen, er könnte im Falle eines Trump-Wahlsiegs Außenminister werden. Es war für die Ukraine immer überlebenswichtig, enge Kontakte zu beiden politischen Lagern zu pflegen.

Würde Trump die Ukraine im Stich lassen?

Ich persönlich glaube das nicht. Als Donald Trump das erste Mal Präsident wurde, hatten wir schon Gelegenheit, seine Rhetorik vor der Wahl mit dem zu vergleichen, was er nach dem Wahlsieg getan hat. Damals fürchteten einige, die USA würden sogar die Nato verlassen. Das ist Gott sei Dank nicht eingetreten. Ich nehme an, dass es diesmal auch so laufen könnte. Die ersten Javelin-Panzerabwehrraketen hat die Ukraine übrigens in der Amtszeit von Donald Trump von den Amerikanern bekommen. Aber natürlich müssen wir auf alles gefasst sein. Ich glaube, dass die Deutschen und alle Europäer viel mehr für ihre eigene Sicherheit tun sollten, egal, wer der nächste Präsident der USA wird. Und das heißt auch: Gerade unsere EU-Freunde sollten der Ukraine viel stärker militärisch unter die Arme greifen.

In Kiew hat Habeck auch gesagt, Deutschland wolle, dass die Ukraine „Erfolg“ habe. Er hat nicht von „Sieg“ gesprochen. Wann kommt der Moment, an dem die Ukraine ihre Kriegsziele neu definiert und statt über einen „Sieg“ lieber darüber spricht, welche Erfolge man noch erringen kann?

Für jeden Ukrainer, ob zu Hause oder an der Front, ist klar: Wir müssen alle besetzten Gebiete befreien. Der Widerstand soll daher fortgesetzt werden. Ich kenne niemanden, der selbst in der schwierigen militärischen Lage, in der wir uns leider gerade befinden, sagen würde: Okay, wenn wir das nicht schaffen, müssen wir uns mit geringeren Zielen zufrieden geben. Es gibt auch weder im Parlament noch in der Öffentlichkeit eine Debatte darüber, welche anderen Ziele das sein könnten. Das heißt nicht, dass das nicht irgendwann kommen kann. Aber im Moment ist das nicht zu hören, und zwar aus einem guten Grund: Egal, welche eventuelle Kompromissformel man da diskutieren würde, sie wäre für die Russen bedeutungslos. Für Putin ist nichts anderes hinnehmbar als eine bedingungslose Kapitulation der Ukraine.

Es klingt, als bedauerten Sie, dass es keine solche Debatte in der Ukraine gibt.

Oh nein, das bedaure ich nicht. Weil eine solche Debatte im Moment nicht zielführend wäre. Sie wäre quasi eine De-facto-Anerkennung, dass die Ukraine auf dem Schlachtfeld nichts mehr zu holen hat. Und das stimmt einfach nicht: Wenn man Russlands militärische Kraft und auch seine wirtschaftliche Stärke mit dem enormen Potenzial unserer westlichen Verbündeten vergleicht, mit den USA und Europa etwa, dann liegen Welten dazwischen, und zwar nicht zugunsten Moskaus. Allein die Amerikaner haben ein fast zehnmal so großes Verteidigungsbudget wie die Russen. Sollten eines Tages echte Voraussetzungen gegeben sein, dass man ernsthafte Gespräche mit Russland führen und über einen gerechten Frieden verhandeln kann, wäre die Ukraine dazu bereit. Aber für den Moment ist das eine Illusion und reine Spekulation.

Gibt es derzeit direkten diplomatischen Kontakt zwischen Kiew und Moskau?

Es gibt eine gewisse Kommunikation auf der technischen Ebene, vor allem, wenn es um den Austausch von Kriegsgefangenen geht. Das schmerzhafte Thema haben wir leider jeden Tag. Aber soweit ich weiß, gibt es auf diplomatisch-politischer Ebene keine direkten Gespräche.

Die Schweiz veranstaltet im Juni eine hochrangige Ukraine-Friedenskonferenz mit führenden Staats- und Regierungschefs. Russland wird nicht vertreten sein. Kommt dafür zumindest China?

Es ist unsere Hoffnung, dass China dabei sein wird und Einfluss auf Putin ausübt. Während seines Besuchs in Peking hoffte auch Kanzler Scholz, dass er da entsprechende Signale bekommt. Aber wie wir gehört haben, gab es leider keine entsprechende Zusage. Das ist schade, denn es gibt keinen alternativen Prozess außer der Friedensformel von Präsident Selenskyj. Insofern hoffen wir, dass möglichst viele Staatschefs teilnehmen, nicht nur aus dem Westen, sondern auch aus dem Globalen Süden, vor allem aus Brasilien. Westliche Politiker sagen, es habe keinen Sinn, mit Putin zu sprechen, und für den Moment stimmt das wohl auch. Aber vielleicht kommt irgendwann diese Zeit. Wir müssen daher heute eine starke gemeinsame Linie vorbereiten und zeigen, dass die Ukraine nicht allein ist und viele Trümpfe in der Hand hat.

Sie haben einen Akteur jetzt gar nicht genannt: den Heiligen Stuhl. Papst Franziskus hat mehrfach gesagt, er würde gerne persönlich nach Kiew und Moskau fahren und vermitteln. Ist das vom Tisch?

Wir haben, ehrlich gesagt, lange gehofft, dass der Heilige Stuhl eine vermittelnde Rolle spielen könnte. Wenn vielleicht nicht in den globalen Fragen, so doch etwa beim Thema, wie aus den besetzten Gebieten verschleppte Kinder wieder zurückkehren können. Es geht um mindestens zwanzigtausend dokumentierte Fälle. Wir hatten gehofft, dass unsere Freunde im Vatikan die Russen dazu bewegen würden, als Zeichen des guten Willens oder einfach aus humanitären Gründen. Leider haben all diese Bemühungen bisher keine Früchte getragen. Aber es ist ja nie zu spät.

Sie sind selbst Christ. Beten Sie?

Oh ja! Wir haben hier in Brasília leider keine ukrainische Kirche, aber ich gehe jeden Sonntag in die katholische Hauptkathedrale, Nossa Senhora Aparecida. Im Süden Brasiliens, vor allem in Parana, gibt es mehr als 270 ukrainische Kirchen, die ukrainische Einwanderer seit Ende des 19. Jahrhunderts gebaut haben. Dort war ich vor einigen Wochen und habe am Palmsonntag einen Gottesdienst mitgefeiert. Das war ein unvergessliches Heimatgefühl. Ich bete aber auch, wenn ich nicht gerade in die Kirche gehe. Ich bete jeden Tag.

Wofür?

Ich bete für den Frieden. Ich bete, dass dieser blutige Krieg aufhört. Dass die Ukrainer wieder aufatmen und in die Zukunft mit Zuversicht schauen können. Ich bete für meine Familie. Meine Mutter lebt in Lwiw, im Westen der Ukraine, auch da fliegen russische Raketen. Sie kann nicht mehr lächeln, seit der große Krieg begonnen hat. Jeden Morgen rufe ich sie an, dann ist es bei ihr schon Nachmittag, und versuche, sie zu trösten. Ich sage ihr, dass es, auch wenn die Lage schlimm ist, immer Hoffnung gibt: Die Nacht ist am dunkelsten vor der Dämmerung.


Zur Person: Andrij Melnyk

Andrij Melnyk war von Januar 2015 bis Oktober 2022 Botschafter der Ukraine in Deutschland. Als solcher war der studierte Jurist zu Beginn des Kriegs gegen Russland als Vertreter seines Landes in vielen Interviews und Talkshows präsent – auch, weil er akzentfrei Deutsch spricht. Mit teils heftiger Kritik an den Entscheidungen der Ampel-Regierung hielt der heute 48-jährige Diplomat dabei nicht hinter dem Berg, was mehrfach zu Verstimmungen zwischen Berlin und Kiew führte. Nach einem kurzen Intermezzo als Vize-Außenminister ist der zweifache Familienvater Melnyk inzwischen seit Juni vergangenen Jahres ukrainischer Botschafter in Brasilien. (gie)

Rundschau abonnieren