VerteidigungsstrategieEU bricht mit Tabus und will Rüstungsindustrie stärken

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Bayern, Schrobenhausen: Ein Ausstellungsstück eines Taurus KEPD 350 Marschflugkörpers ist im Showroom des Rüstungsunternehmens MBDA ausgestellt.

Bayern, Schrobenhausen: Ein Ausstellungsstück eines Taurus KEPD 350 Marschflugkörpers ist im Showroom des Rüstungsunternehmens MBDA ausgestellt.

Die Rüstungsindustrie in der EU soll gestärkt, die militärische Zusammenarbeit intensiviert werden – auch, um unabhängiger von den USA zu sein.

Jahrzehntelang lobte sich die Europäische Union vorneweg als Friedensprojekt. Nun aber, so hieß es hinter den Kulissen in Brüssel, „wirft die Gemeinschaft die Kriegsmaschinerie an“. Die EU-Kommission stellte am Dienstag ihre Strategie vor, mit der sie Europas Rüstungsindustrie stärken will – und die mit einem lang geltenden Tabu bricht. Während Brüssel bisher lediglich zugestimmt hatte, die Produktion von Munition aus dem EU-Haushalt zu finanzieren und Anreize für die gemeinsame Beschaffung von militärischen Gütern auf einer Notfallbasis zu schaffen, will die Kommission dieses Prinzip nun langfristig verankern.

Der EU-Industriekommissar Thierry Breton erklärte klipp und klar: „Die Zeit der europäischen Friedensdividende liegt hinter uns.“ Europa sei stattdessen einer „existenziellen Bedrohung“ ausgesetzt, betonte der Franzose bei der Präsentation des Pakets. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine habe die militärischen und industriellen Defizite der Europäer deutlich gemacht. Geht es nach der Brüsseler Behörde, sollen die EU-Länder deshalb unter anderem mehr Waffen, Panzerfahrzeuge und Schutzausrüstung bei europäischen Firmen erwerben. Ein künftiger Fokus soll auf dem Ausbau der Herstellung von Drohnen liegen.

Das Paket besteht aus zwei Teilen. Da ist zum einen die „European Defense Industry Strategy“ (EDIS) und zum anderen – auf dieser Strategie basierend – der Gesetzesvorschlag mit dem Kürzel EDIP für „European Defense Industry Programme“. Die beiden Instrumente ermöglichten, „von einem Krisenreaktionsmodus zu einer strukturellen Verteidigungsbereitschaft überzugehen“, betonte Margrethe Vestager, die Vizepräsidentin der EU-Kommission.

Zu viele unterschiedliche Systeme für denselben Zweck

Nicht nur, dass die Mitgliedstaaten bislang knapp 80 Prozent der Rüstungsgüter, für deren Beschaffung sie seit Russlands Invasion der Ukraine bis Mitte 2023 mehr als 100 Milliarden Euro ausgegeben haben, außerhalb der Union gekauft hätten – ein Umfang, den Vestager als „nicht mehr tragbar“ bezeichnete. „Unsere Verteidigungsausgaben fließen auch in zu viele verschiedene Waffensysteme“, stellte die Dänin klar.

Die Europäer hätten oft „zwei, drei, vier, manchmal sogar fünf Arten einzelner Waffen“ im Vergleich etwa zu den Vereinigten Staaten. Das schaffe Redundanzen und Ineffizienz. „Jetzt, da die Verteidigungshaushalte in allen Mitgliedstaaten stark steigen, sollten wir besser investieren, was vor allem bedeutet, dass wir gemeinsam und europäisch investieren“, sagte Vestager.

Ausgaben für Rüstung

Ausgaben für Rüstung

Die Wettbewerbskommissarin mahnte an, dass das transatlantische Gleichgewicht richtig gestaltet werden müsse. „Unabhängig von der Wahldynamik in den USA müssen wir mehr Verantwortung für unsere eigene Sicherheit übernehmen“, sagte sie mit Blick auf eine mögliche Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus. Eine bessere Handlungsfähigkeit werde die EU zu einem stärkeren Verbündeten der Nato machen.

Das erklärte Ziel der neuen Verteidigungsstrategie: Bis 2030 sollen die EU-Länder 40 Prozent der militärischen Ausrüstung in Zusammenarbeit beschaffen. Als Vorbild für die Idee dienen die gemeinsamen Impfstoffeinkäufe während der Corona-Pandemie. Dabei beinhaltet es der Plan, die Ukraine als Quasi-Mitgliedstaat zu betrachten.

Endlich würden konkrete Ziele für die Zusammenarbeit aufgestellt, lobte die Grünen-Europaabgeordnete Hannah Neumann. An denen könne man messen, „ob den warmen Worten zu mehr Kooperation aus den Mitgliedsstaaten endlich Taten folgen“. Seit Kriegsbeginn profitieren insbesondere die USA von der gestiegenen Nachfrage nach militärischen Gütern. Das soll sich ändern. Um Anreize zu schaffen, sich bei Rüstungsprojekten zusammentun, sollen Mitgliedstaaten bei den Mehrkosten entlastet werden. So will die Kommission zunächst 1,5 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt mobilisieren.

Von direkten Waffenkäufen der Union ist nicht mehr die Rede

Reicht das? Experten verneinen das zwar, aber aus der Kommission war zu vernehmen, dass dies lediglich ein Anfang sei. Trotzdem, der Vorschlag der Behörde geht keineswegs so weit, wie Beobachter erwartet hatten. So sind etwa keine direkten Waffenkäufe geplant. Auch von Bretons Forderung, „einen riesigen Verteidigungsfonds in Höhe von wahrscheinlich 100 Milliarden Euro zu schaffen“, wie der Franzose noch im Januar sagte, blieb am Ende nicht viel übrig.

Das dürfte vorneweg an Mitgliedstaaten wie Deutschland liegen, die in Sachen Geld konservativer eingestellt sind und sich schon im Vorfeld gegen den Plan der Kommission gewehrt hatten, die gemeinsamen Finanzen aufzustocken. Auch wenn bei den meisten EU-Ländern mittlerweile Konsens darüber besteht, dass man die europäische Verteidigung stärken und die Abhängigkeit von den USA verringern will, scheiden sich die Geister an der Grundsatzfrage, ob die EU-Kommission die Aufsicht über neue gemeinsame Verteidigungsmittel erhalten soll.

Handelt es sich hier um einen Versuch der Machtübernahme durch Brüssel bei einer eigentlich nationalen Kompetenz, wie EU-Diplomaten spekulierten? Zumindest der Zeitpunkt der Vorstellung dürfte kaum zufällig gewählt gewesen sein. Am Donnerstag soll die Kommissionschefin Ursula von der Leyen von ihrer Fraktion, der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP), in Bukarest offiziell zur Spitzenkandidatin für die Europawahl ernannt werden. Die neue Strategie für Europas Verteidigung will die Deutsche zu einem der Kernelemente in ihrer Bewerbung um eine zweite Amtszeit machen.

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