Sie konnte ausschlafen, die ersten Schulstunden fielen aus. Gegen 9.30 Uhr rief sie ihre Mutter im Büro an, wollte um halb zwei von der Schule abgeholt werden. Die Mutter kam pünktlich, Tanja nicht. An jenem Morgen vor fünf Jahren hat die damals 15-jährige Tanja Mühlinghaus das Wuppertaler Elternhaus mit Schulsachen verlassen. Abends um 21.10 Uhr wurde sie als vermisst gemeldet. Letztes Lebenszeichen: ein Brief, fünf Tage nach dem Verschwinden. „Ich werde nun doch schon am Wochenende zu Hause sein“, steht darin. Die Frage, ob der Brief unter Zwang geschrieben wurde, konnte nie geklärt werden.
Seither haben ihre Eltern alles getan, um Tanja zu finden. Polizei, Presse, Internet, Fahndungen - über 200 Hinweise gingen ein. Keiner führte zu dem Mädchen.
Heute erwartet sich Tanjas Mutter keine Hinweise mehr. „Man hofft, aber weiß nicht, worauf man es noch stützen kann.“ In den Worten von Elisabeth Mühlinghaus schwingen bitter enttäuschte Wünsche mit. „Wo ist sie? Wie geht es ihr? Werde ich sie wiedersehen? Warum?“ Die bohrenden Fragen bleiben. „Das hat sich nicht verändert, auch nicht nach fünf Jahren.“ Selbstzweifel und Selbstvorwürfe spielten eine große Rolle. „Es ist genauso schlimm wie damals.“ Dass die Suche erst verzögert begann, weil die Polizei vermutete, Tanja sei einfach nur weggelaufen, erwähnt ihre Mutter nur nebenbei.
Tanja sei gleichzeitig in Hamburg, München und Berlin gesehen worden, erzählt Mühlinghaus. Zumindest gab es diese Hinweise. Als „schändlich“, bezeichnet sie dies, weil sie jedes Mal Gefühle weckten. Und doch hat sie es irgendwie überstanden. Nur will sie nicht mehr über die Ereignisse vor fünf Jahren sprechen, es wühlt sie zu sehr auf.
Auch Thomas Borchert aus Köln gehört zu den so genannten Langzeitvermissten. Sein sehnlichster Wunsch war die Ausbildung zum Krankenpfleger. Da er in seiner Heimat in Sachsen-Anhalt keine passende Stelle bekam, zog er nach Köln. Dort arbeitete er bei einer Zeitarbeitsfirma. In der Nacht des 23. Dezember 2001 rief der damals 22-Jährige nach einer Party um halb zwei seinen Vater an. Er erzählte von Problemen mit der Freundin und wirkte leicht angetrunken. Der Vater riet ihm, „erstmal zu schlafen“. Um drei Uhr kehrte auch die Freundin in die gemeinsame Wohnung in Köln-Mülheim zurück. Von Thomas keine Spur. Pass, Handy und EC-Karte hat er liegen lassen. „Er hat aus irgendeiner Wartehalle angerufen, im Hintergrund hörte ich etwas wie einen Bus“, berichtet Wolfgang Borchert. Das Telefonat mit dem Vater bleibt die letzte und einzige Spur. „Es hat im Fall Borchert absolut null Hinweise gegeben“, äußert die Kölner Polizei. „Leider spricht einiges für Suizidabsicht.“
Eine Ansicht, die Familie Borchert nicht teilen kann. „Man kann doch sein Kind nicht abschreiben“, so der Vater. Plakataktionen, Internetsuche und Kontakte zur Kölner Vermisstenstelle - bislang ohne Erfolg. Die Polizei habe im Fall seines Sohnes „alles getan“, sagt Borchert. Als Bundesgrenzschutzbeamter weiß er, wie schwer eine Suche ohne Hinweise ist. Alexander Gresta, Sachbearbeiter im Fall Mühlinghaus: „Problematisch ist, dass es bei Vermisstensachen keinen Tatort gibt.“ Hinzu komme, dass es bei jungen Leuten oftmals vorher Streit mit der Familie gab. Dann sei abzuwägen, ob es sich nicht um ein vorrübergehendes Fortlaufen handele. Oft würden Eltern und Familie bei der Vermisstenanzeige diese Möglichkeit selbst nicht ausschließen. Dennoch beginne sofort die Routinearbeit. Erst wenn alle Hinweise mehrfach durchgearbeitet sind, ist Schluss. „Von alleine noch was zu machen, ist ohne Spuren schwer.“