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Rheinischer BrotaufstrichAls Rübenkraut noch ein Arme-Leute-Essen war

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Ein Meckenheimer Markenzeichen: Grafschafter Goldsaft wird hier seit 1904 produziert.

Meckenheim – In dem Roman „Ansichten eines Clowns“ lässt Heinrich Böll seine Hauptfigur, den Clown Hans Schnier, erzählen, dass seine Mutter ihre Kinder trotz des Reichtums der Familie nicht ausreichend mit Nahrung versorgt habe. Satt wurden sie bei Mutter Wienekens, einer Arbeiterfrau, die einen Laib Brot mit der linken Hand vor der Brust hielt und mit der rechten frische Scheiben schnitt, „die wir auffingen und mit Apfelkraut beschmierten“. Der 1917 in Köln geborene Böll, der in einer kleinbürgerlichen Familie aufwuchs, wird diesen süßen Brotaufstrich sicherlich gekannt haben, sonst hätte er ihn womöglich nicht so liebevoll erwähnt.

Apfel-, Birnen- und Rübenkraut ist ein eingedickter Fruchtsaft aus gedämpften und ausgepressten reifen Baum- und Feldfrüchten und gehörte früher im Rheinland – hier spielt Bölls 1963 veröffentlichter Roman – zu den Grundnahrungsmitteln. Noch vor knapp 20 Jahren antworteten die meisten Jugendlichen in einer Umfrage des LVR-Amts für rheinische Landeskunde, in der es wissen wollte, was sich die jungen Leute als üblichen oder bevorzugten Belag aufs Brot tun: Apfelkraut.

Der Volkskundler Alois Döring berichtet davon in der von Ute Herborg, Raphael Thörmer und Carsten Vorwig herausgegebenen Festschrift („Gestern noch Alltag“) zum Abschied von Josef Mangold, bis zum Februar 2022 Chef des Freilichtmuseums Kommern. Mangold leitete 2003 die Butterbrotumfrage.

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Viel Zucker sorgt für lange Haltbarkeit

Bevor Kühlschränke und Gefriertruhen Mitte des 20. Jahrhunderts Massenware wurden, war auf dem Land die Herstellung von Apfel- oder Birnenkraut – das nichts mit Rot- oder Weißkraut zu tun hat - eine Möglichkeit, Obst als Wintervorrat zu konservieren. Der hohe Zuckergehalt der zähen Masse sorgte für eine fast unbegrenzte Haltbarkeit. Viele Bauern produzierten mit einfachen Pressen und Kesseln im Nebenerwerb die „Krükchen“ oder „Krutt“ genannte süße Gabe, die sie, abgedeckt mit Pergamentpapier, in Steinkrügen im Keller lagerten oder, wenn mehr als für den eigenen Bedarf hergestellt worden war, auch selbst vertrieben.

Das Rübenkraut, gewonnen aus Zuckerrüben, galt als Arme-Leute-Essen, während die Begüterten sich Apfelkraut leisten konnten. Wer welchen Aufstrich nahm, war laut Döring „fast eine Frage des Sozialprestiges“. Er zitiert aus den Erinnerungen des Sozialisten Friedrich Engels, dass im Stammhaus der Fabrikantenfamilie Engels in Wuppertal-Barmen zwei Mägde seiner Großeltern „uns Kinder oft mit Apfelkraut auf Brot traktierten“.  Auch in der Familie des Gründers der Kaiserswerther Diakonie, Theodor Fliedner, kam Apfelkraut auf den Tisch. Der Frankfurter Schriftsteller und Büchner-Preisträger Martin Mosebach schreibt in seinem 1983 erschienenen Roman „Das Bett“ von der Mutter des Fabrikantensohns Stephan Korn, die heimlich vom rheinischen Apfelkraut nascht. „Wochentags Rübenkraut, sonntags Apfelkraut“ erinnert sich der Kölner Lyriker Jürgen Becker an das häusliche Leben auf dem Land.

Rüben- und Apfelkraut schutzwürdig

500 Krautfabriken, zumeist wohl kleine Schuppen- oder Kellerproduktionsstätten, soll es nach dem Ersten Weltkrieg im Rheinland gegeben haben, heute zählt die 2004 gegründete „Schutzgemeinschaft Rheinischer Zuckerrübensirup/Rheinisches Apfelkraut“ nur noch drei: die Grafschafter Krautfabrik Josef Schmitz KG in Meckenheim, die Apfel- und Rübenkrautfabrik Spelten in Wegberg, die 2017 von den Meckenheimern übernommen wurde, und den Familienbetrieb Wilhelm Koppers Krautfabrik in Goch.

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Unters Dach vom „Grafschafter Gold“ kam schon 1976 der damals bedeutendste deutsche Hersteller von Apfelkraut, die 1872 gegründete Apfelkraut- und Marmeladenfabrik Gottlieb Land aus Herchen/Sieg. Sie verpackte ihre Produkte in Dosen, die heute von Sammlern bei Ebay gehandelt werden. Eine silberfarbene, mit Apfellaub bemalte Blechdose mit einem Füllgewicht von 450 Gramm und abnehmbarem Deckel der Firma Land wird gar als Einzelstück im Museum Europäischer Kulturen in Berlin aufbewahrt.

2011 beziehungsweise 2012 hat die Europäische Union Rüben- und Apfelkraut unter dem Begriff „geschützter geografischer Anbau (ggA)“ als schutzwürdig anerkannt. Und gleichzeitig vorgeschrieben, dass 1 Kilogramm Apfelkraut mindestens 2,7 Kilo vollreifes Obst, davon mindestens 2,1 Kilo Äpfel enthalten müssen; Birnen dürfen also auch drin sein. Rübenkraut darf nur aus Zuckerrüben der Region und ohne Zutaten in Gläser oder Becher gefüllt werden darf. Wie es allerdings seinen süß-malzigen und karameligen Geschmack bekommt, ist das Geheimnis des Herstellers.

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