Stille ohne RückfahrkarteZu Besuch bei Bonns Stadt-Eremitin Schwester Benedicta

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Benedicta

Für einen christlichen Eremiten steht nicht mehr er selbst im Mittelpunkt, sondern das Kreuz. So auch auf diesem Bild, das Schwester Benedictas Gesicht ganz bewusst nicht zeigt. Es entstand in der winzigen Privatkapelle der Einsiedlerin, unterm Dach ihrer winzigen Klause neben der Michaelskapelle an der Godesburg.

  • Kein Radio, kein Fernsehen, kein Geplapper, keine Ablenkung: Sind Eremiten für die Gesellschaft letztlich nicht eine Zumutung?
  • Zu Besuch bei Bonns Stadteremitin, die seit 15 Jahren unterhalb der Godesburg lebt.

Bonn – Auf dem Tisch in der kleinen Klause am Godesberg dampft heißer Ingwertee. Schwester Benedicta nimmt einen Schluck und blickt ihr Gegenüber aufmerksam an. Seit nunmehr 15 Jahren lebt die 73-Jährige in dem alten, schiefen Häuschen, das sich an die Michaelskapelle schmiegt: bewusst allein, abgegrenzt von der Gesellschaft, schweigsam, asketisch, in allem nur auf das Nötigste reduziert.

Schwester Benedicta ist Eremitin. Sie verwirklicht also über den Dächern von Bonn eine spartanische Lebensform, die in der Tradition der christlichen Kirchen auf die ägyptischen Wüstenväter des dritten bis fünften Jahrhunderts nach Christus zurückgeht. Diese Lebensart wurde und wird aber immer auch in anderen Religionen und sozusagen in der freien Wildbahn gelebt. Eremiten sind dem Wort nach Wüstenbewohner. Inzwischen findet man sie meist in den heutigen Steinwüsten, den Städten, ohne dass die meisten Mitmenschen davon wissen.

Nach 15 Jahren noch am Anfang

15 einsame Jahre hat die Bonner Stadteremitin nun hier unterhalb der Godesburg sozusagen zwischen Himmel und Erde verbracht. Wo sie heute steht? „Am Anfang“, antwortet Schwester Benedicta sofort. Und der Anfang dauere so lange, bis sie das Zeitliche gesegnet habe, fährt sie fort. „Das meine ich ernst. Ich gehe dem Ziel entgegen. Und der Weg ist das Ziel.“

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Die aus einer rheinischen Familie stammende Frau mit dem offenen Gesicht blickt zu Boden. Sie trat als 20-Jährige in einen Servitinnenorden ein. Doch im Laufe von fast vier Jahrzehnten als Schwester in Krankenhäusern und Gemeinden habe sie die Einladung Gottes gespürt, Eremitin zu werden. Sie habe das als Endfünfzigerin auch ihrem Orden vermitteln können. „Und dieses Leben erfüllt mich seitdem zutiefst.“ Schwester Benedicta hatte also, wie sie es ausdrückt, ihren Heuwagen schon eingefahren, als sie sich von der Gemeinschaft absonderte. Man werde nicht als Eremitin geboren. „Das wird dir nicht in die Wiege gelegt. Ein Stück Weg dahin hat jeder. Ja, es ist eine Berufung“, betont die 73-Jährige.

Der Ruf an der Kreuzung des Lebensweges

Meistens spürten das Leute um die 40, Leute mit Lebenserfahrung. Es gebe aber bei weitem nicht nur Ledige, die wie sie den Weg über einen kirchlichen Orden genommen hätten. Nein: „Es gibt auch Väter und Mütter unter den Eremiten, es gibt Geschiedene.“ Die hätten irgendwann an einer Kreuzung ihres Lebensweges einen Ruf verspürt und seien ihm nachgegangen. Und dann grenzt Schwester Benedicta ein, dass die Entscheidung, in Stille zu leben, auf keinen Fall eine Flucht bedeuten dürfe. „Das wäre widersinnig. Da fällt dir die Decke ganz flott auf den Kopf. Denn du kannst nicht mehr fliehen. Du kannst nichts mehr auf andere abwälzen. Du musst dich dir selbst stellen, deiner Eitelkeit, deinem Stolz.“ Als Eremit sei man nur sich selbst ausgesetzt. Und in ihrem Fall auch Gott.

Kirche Benedicta

Schwester Benedicta kümmert sich für die katholische Gemeinde um die Kapelle. Neben dem Gotteshaus: ihre kleine Eremitage.

Die Frau im einfachen Ordenshabit ist durchaus mit handfestem Humor gesegnet. Durch ihre Beine schlüpft Momo, die zugelaufene Katze, die als einzige Benedictas Leben teilt. Eine Mini-Küche, ein Zimmerchen zum Wohnen, eine Ecke zum Schlafen und unter dem Giebel eine klitzekleine Kapelle mit einem Kruzifix, vielen Ikonen und Kerzen: Das ist die Welt, die ihr seit mehr als einem Dutzend Jahren zum Leben reicht.

Im kleinen Hof verströmen das Zitronenbäumchen und der Olivenstrauch hier am Rhein fast mediterranes Lebensgefühl. Hier ist Schwester Benedicta sich allein genug. Hier ist sie zwar räumlich nah am pulsierenden Leben, aber in ihrer schon Jahrhunderte zuvor genutzten Eremitage auf ihre Art weit entfernt.

Mehr Gelassenheit gelernt

Wie sie heute auf ihren eremitischen Weg schaue? Sie sei seit ein paar Jahren gelassener geworden, meint Schwester Benedicta nun nachdenklich. „Ich kann heute über Dinge schmunzeln, über die ich mich anfangs noch aufregte. Ich habe also einen größeren Abstand gewonnen.“ Ihr komme es manchmal so vor, als würde sie ein Bild betrachten: „Wenn ich da mit der Nase vorstehe, kann ich es nicht richtig sehen. Das gelingt erst aus einer gewissen Distanz.“

Weil sie weit weniger Ablenkung habe als andere, könne sie konzentrierter sehen. Dazu falle ihr das Bild eines Trichters ein. „Am Anfang war der Trichter breit, ich habe viele Übungen gemacht, um eremitisch zu leben. Inzwischen geht es in die Enge des Trichters hinein. In die Konzentration.“ Die Frau im grauen Habit sitzt entspannt am Tisch. Nichts scheint ihre innere Ruhe stören zu können.

„Muss ich wirklich rausgehen?“

Sie habe immer weniger das Bedürfnis, nach draußen zu gehen, erläutert Schwester Benedicta weiter. Anfangs sei sie sehr früh am Tag zum Einkaufen gegangen, um von möglichst wenigen Leute gesehen zu werden. „Inzwischen überlege ich: Muss ich wirklich rausgehen? Ich habe meine Gänge nach draußen noch mehr reduziert.“ Hat sie denn keine Sehnsucht nach den Menschen? Schwester Benedicta schüttelt den Kopf. „Nein, Menschen erlebe ich genug in den seelsorgerischen Gesprächen, für die sie mich aufsuchen“, berichtet sie. Es gehe darum, keine Sehnsucht nach Ablenkung zu verspüren. Sie gehe von ihrer Klause aus noch in die Eucharistiefeier in die Kirche. Aber mehr passe einfach nicht mehr in das Schmale des Trichters. „Ich bin also in meinem eremitischen Leben weitergekommen. Ich habe erreicht, dass noch mehr an nicht Wichtigem wegfällt.“ Nebenan hört man Stimmen in der Michaelskapelle.

Schwester Benedicta versorgt sie für die katholische Gemeinde und huscht dann ab und an an Besuchern vorbei. Jeder Eremit müsse an seinem neuen Ort seinen Tagesrhythmus allein strukturieren. Dabei helfen ihr ihre Ordensgebete. Jeder müsse aber auch seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten, berichtet sie. Weshalb eine ganze Reihe „Kollegen“ in eine prekäre finanzielle Lage geraten sind.

Eremitentum seit 1983 anerkannt

Schwester Benedicta hat in ihren ersten Einsiedlerjahren den bescheidenen Lebensunterhalt mit der Fertigung unzähliger kunstvoller Kerzen bestritten. Inzwischen im Pensionsalter, hat sie das Glück, finanziell vom Orden getragen zu werden. Andere Katholiken auf diesem Weg haben als Diözesaneremiten die Bindung an ein Bistum erlangt.

Denn seit 1983 erkennt die Römisch-Katholische Kirche das Eremitentum als eine der ältesten Formen der Nachfolge Jesu Christi an, „in dem Gläubige durch strengere Trennung von der Welt, in der Stille der Einsamkeit, durch ständiges Beten und Büßen ihr Leben dem Lob Gottes und dem Heil der Welt weihen“. Das sind die Bedingungen und der Anspruch der Katholischen Kirche. Innerhalb der Evangelischen Kirche sind keine Eremiten bekannt.

Evangelische Aspiranten haben meist die Konversion hinter sich. Auf dem Schiff, das sich Gemeinde nennt, findet der gute Protestant wohl am besten gemeinsam zu Gott. Ein Inseldasein, von dem kein Radio, kein Fernseher, kein Menschengeplapper ablenkt, also eine Reise ohne Rückfahrkarte in die Stille, passt da offensichtlich nicht hinein.

Kein Mensch ist eine Insel

Wobei die freundliche Frau am Tisch sehr wohl differenziert. Letztlich sei kein Mensch eine Insel, sagt sie. „Wir sind alle aufeinander angewiesen. Auch Eremiten. Wir sind ja nicht irgendwo in einem Reagenzglas.“ Ein Eremit ziehe sich also nicht komplett zurück, um nur mit seinem Gott zu bleiben, betont Schwester Benedicta. „Ich bin nicht Eremitin, um mein Seelenheil zu polieren oder zu retten, sondern ich bin da, um Zeugin für den Glauben zu sein.“ Und das müsse sie auch jemandem bezeugen.

Und wem? „Denen, die zu mir kommen, die bei mir anfragen und um ein Gespräch bitten. Es ist also nicht so, dass Eremiten egoistisch und nur für sich selbst handeln“, lautet die Antwort. Die 73-Jährige weiht ihr Leben dem Heil der Welt, wie es ihre Kirche fordert.

Der Mensch sei in Gemeinschaft geschaffen worden, Menschen seien aufeinander angewiesen, führt die Eremitin aus. „Sonst hätte Gott nur den Adam geschaffen. Wir stammen aber alle aus Familien, aus Zusammenhängen.“ Sie könne also auch als Eremitin nur ihr Seelenheil erreichen, wenn sie denjenigen, der vor ihr, hinter ihr oder neben ihr stehe, im Blick habe. Sie habe sich zwar aus den Zusammenhängen, in denen sie zuvor gelebt habe, bewusst verabschiedet. Aber deshalb lebe sie nicht auf einer Insel für sich allein.

Besuch auf der Insel

„Ich bin auf einer Insel, aber zwischendurch kommen Menschen zu mir hin. Ich suche nicht die Gesellschaft. Aber die Menschen kommen auf meine Insel. Und sie fahren wieder“, erläutert Schwester Benedicta. Eremiten müssten also das, was sie auf ihrer Insel empfingen, weitergeben. An die, die Rat und Hilfe suchten – oder einfach einmal einen, der zuhöre. Wobei eine spezielle Videoanlage in den Bauten die Eremitin gegen Unbill schützt.

Warum Menschen denn gerade sie aufsuchten? Weil sie anders, eben konzentriert auf das Wesentliche, lebe und nicht von einem zum nächsten Termin hetzen müsse, meint die Eremitin nachdenklich. Das spürten die Leute. „Wenn sie zu mir kommen und nach zehn Minuten sagen: Schwester, ich bin auch gleich wieder weg. Dann kann ich sagen: Brauchen Sie nicht. Ich bin jetzt ganz für Sie da und nicht nur mit halbem Ohr.“

Hilfe, wenn jemand nicht weiter weiß

Eine Frau habe sie mal schnippisch gefragt: „Schicken Sie die Hilfesuchenden denn dann auch zu einem Psychologen, wenn Sie nicht mehr weiterkommen?“ Die Eremitin zuckt mit den Achseln. Der Frau habe sie geantwortet: „Sie werden staunen, es läuft genau umgekehrt. Wenn die Menschen beim Psychologen nicht mehr weiterkommen, dann kommen sie zu mir.“

Jetzt gießt sie sich noch einmal heißen Tee nach. Im Raum ist nur die Katze zu hören, wie sie sich leise in ihrem Korb kuschelt. In der Psychologie werde eine bestimmte Ebene angesprochen, ergänzt Schwester Benedicta. Die geistliche, die spirituelle Ebene, das sei etwas ganz anderes. Und dann holt sie noch ein Büchlein aus ihrer kleinen Bibliothek. Gezielt schlägt sie ein Gebet des Franz von Sales auf. „Wenn dein Herz wandert, bring es behutsam an seinen Platz zurück und versetze es sanft in die Gegenwart deines Herrn“, liest sie daraus vor. Das Gebet gehe aber noch sehr interessant weiter. „Und selbst wenn du in deinem Leben nichts anderes getan hast, außer dein Herz zurückzubringen und wieder in die Gegenwart unseres Herrn zu setzen, obwohl es dir jedes Mal wieder fortlief, nachdem du es zurückgeholt hattest, dann hast du dein Leben wohl erfüllt.“

Das sei entscheidend, dieser Endlossatz, betont die Eremitin. „Und selbst wenn du in deinem Leben nichts anderes getan hast. Obwohl dein Herz dir jedes Mal wieder fortlief.“ Trotzdem habe man ein erfülltes Leben geführt. Keine Titel erhalten, keine Preise errungen, keine Rekorde überboten, keine Schätze eingefahren. Nur versucht, das Herz in die Gegenwart Gottes zu setzen, das sei schon das Ziel.

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