„Kompass ist in Unordnung geraten“Bundesbeauftragter für jüdisches Leben im Interview

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In der Altstadt Bergneustadts hatte Dr. Felix Klein vor dem Konzert Quartier bezogen.

In der Altstadt Bergneustadts hatte Dr. Felix Klein vor dem Konzert Quartier bezogen.

Oberberg – Dr. Felix Klein (54) ist nicht nur Violinist im Diplomatischen Streichquartett (Berlin) und damit zurzeit auch musikalischer Begleiter von Adrienne Haan. Seit Mai 2018 ist der gebürtige Darmstädter 2018 Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus. Vor dem Konzert in Bergneustadt hat Jens Höhner ihn zum Gespräch getroffen.

Herr Dr. Klein, bei verschiedenen Veranstaltungen und Gedenkfeiern war zuletzt immer wieder die Rede von einem erneut aufkeimenden Antisemitismus, auch hier im Oberbergischen Kreis. Was sind Ihrer Ansicht nach Anzeichen dafür?

Dr. Felix Klein: Ja, das ist immer wieder der alte Antisemitismus. Aber er zeigt sich stets in neuen Ausprägungen, wie beispielsweise aktuell im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie. Einige Impfgegner setzen sich und ihre Situation auf eine schändliche Art und Weise gleich mit jener von Juden im Nationalsozialismus. Der Antisemitismus sucht sich immer wieder neue Anlässe. Das ist nicht weiter überraschend, denn wie auch die Geschichte immer wieder gezeigt hat, werden die Menschen in Zeiten der Krise häufig anfälliger für irrationale Erklärungsmuster, und Antisemitismus ist ein solches Erklärungsmuster. Ich möchte in diesem Zusammenhang das Wort „Verschwörungstheorie“ bewusst vermeiden. Denn das geäußerte Gedankengut ist oftmals keine Theorie, sondern plumper Unsinn. Die Hemmschwelle ist nach meiner Wahrnehmung gesunken. Das Internet und die sozialen Medien haben in besonderer Weise dazu beigetragen, dass sich die Gesellschaft so verroht ist. Es wird heute zunehmend offen geäußert, was früher nur gedacht wurde und ich stelle leider eine erschreckende Gleichgültigkeit darüber fest, dass manches sogar strafrechtlich relevant ist, zum Beispiel die Leugnung oder die Relativierung der Shoah.

Immer wieder wird der Davidstern zurzeit von Impfgegnern und politischen Gruppierungen missbraucht, um auf eine angebliche Opfersituation hinzuweisen. In Oberberg zum Beispiel wurde eine solche Abbildung anonym einer Schulleitung zugeschickt, nachdem sich diese kritisch der AfD gegenüber geäußert hatte. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie so etwas hören?

Ich bin entsetzt darüber, dass rote Linien, über die lange Zeit gesamtgesellschaftlicher Konsens bestand, nun immer wieder überschritten werden, indem der Holocaust und seine Opfer relativiert und instrumentalisiert werden, um bestimmte Ziele zu verfolgen. Mir macht diese Verrohung Sorgen, weil sie zeigt, dass unser gesellschaftlicher Kompass in Unordnung geraten ist – eben dadurch, dass Menschen, die Aufmerksamkeit erzeugen wollen, es auf diese Weise tun. Da müssen wir gegensteuern. Von daher ist es gut, dass der Gegendruck von Polizei und Staatsanwaltschaft da ist, es kommt ja nun vermehrt zu Anzeigen von Ordnungswidrigkeiten und Strafverfahren – endlich, muss ich sagen.

Noch rechtzeitig oder schon zu spät?

Ich bin froh, dass Polizei und Justiz Gebrauch von den rechtlichen Möglichkeiten machen. Studien und auch Einzelfälle zeigen, dass ein konsequentes Vorgehen wirklich sinnvoll und wirksam ist, weil dieses Milieu zurückweicht, wenn es einen staatlichen Gegendruck gibt.

Was sind für Sie als Antisemitismus-Beauftragter der Bundesregierung in dieser schweren Zeit die größten Herausforderungen im Kampf gegen den Antisemitismus?

Dazu gehört sicherlich, die Ansätze und Strukturen, die wir in den vergangenen Jahren geschaffen haben, zu vernetzen, zu verstetigen und zum Einsatz zu bringen. Ich bin dabei, eine nationalen Strategie gegen den Antisemitismus zu erarbeiten Die Bereiche Justiz und Bildung stehen hier für mich im Zentrum. Ziel muss es sein, dass Antisemitismus stärker sanktioniert wird, dass es häufiger zu Strafverfahren und auch Verurteilungen kommt. Ich setze mich dafür ein, dass es bei den Staatsanwaltschaften Antisemitismus-Beauftragte geben muss, überall in Deutschland. In einigen Bundesländern ist das schon der Fall, aber eben nicht in allen. Wir müssen Staatsanwälte, Richter und Polizei noch besser in die Lage versetzen, antisemitische Übergriffe auch als solche zu erkennen, um Antisemitismus auch entsprechend verfolgen und dagegen vorgehen zu können. Der Fall des Sängers Gil Ofarim in Leipzig zeigt, wenn der Wille einer Staatsanwaltschaft da ist, zu ermitteln, dann ist das auch möglich. Das ist das eine, der repressive Bereich. Der andere ist der präventive Bereich. Wenn „Du Jude!“ auf einem Schulhof als Schimpfwort gerufen wird, dann wünsche ich mir, dass Lehrerinnen und Lehrer in der Lage sind, aufzuklären und mit Antisemitismus umzugehen. Ich setze mich daher dafür ein, dass die Auseinandersetzung mit der Shoah und mit Antisemitismus bundesweit ein verpflichtender Bestandteil des Lehramtsstudiums wird. Hierzu gehören Pflichtbesuche von allen angehenden Lehrerinnen und Lehrern in Gedenkstätten wie etwa dem Haus der Wannseekonferenz oder KZ-Gedenkstätten. Ich halte es für nicht hinnehmbar, dass es immer noch möglich ist in Deutschland, ein Lehramtsstudium zu absolvieren, auch im Fach Geschichte, ohne sich mit der Shoah auseinandergesetzt zu haben.

Was sehen Sie an Gefahren auf uns zu rollen, wenn Sie an die Montagsspaziergänge – wie in Gummersbach und Waldbröl etwa – denken? Dort geht eine oft skurrile Mischung aus offen Rechten, Impfgegnern, Verschwörungstheoretikern, Reichsbürgern, Esoterikern, aber eben auch braven Bürgern gemeinsam auf die Straße.

Ich sehe darin eine Gefahr. Es ist neu, dass diese Gruppen, die normalerweise nichts miteinander zu tun hätten, jetzt Seite an Seite gehen bei Demonstrationen oder auch im Internet gemeinsame Ziele verfolgen. Vordergründig protestieren sie gegen die Corona-Politik, aber Verschwörungsmythen und Antisemitismus sind jetzt faktisch wie ein klebriger Kitt, der diese Gruppen zusammenhält. Die Verfassungsschutzbehörden haben bereits reagiert und eine Kategorie geschaffen, die Deligitimierung des Staates. Diese berechtigt die Behörden nun, zu beobachten und Maßnahmen zu ergreifen. Aber ich fürchte, dass sich diese Szene noch weiter radikalisiert, zunehmend gegen Ende der Pandemie. Wenn dann die Maßnahmen gelockert werden, wenn wir die Pandemie hoffentlich bald hinter uns gelassen haben, dann steht zu befürchten, dass es immer noch eine Gruppe geben wird, die sich immer weiter radikalisiert. Die müssen wir genau beobachten. Radikalisierung insbesondere im Internet ist ein großes Problem, das haben die Anschläge von Halle und Hanau gezeigt.

Was können die Menschen wie du und ich tun, um ebenfalls etwas dagegen zu unternehmen?

Sich informieren über Antisemitismus. Das ist so wichtig, weil der so gegenwärtig ist im täglichen Leben – auf einer Betriebsfeier, im Restaurant, im Fußballstadion. Dort wird er oftmals geäußert, aber viel zu selten wird etwas dagegen unternommen. Und das darf nicht sein. Wir müssen eine wehrhafte Gesellschaft sein, mutig sein und Zivilcourage zeigen. Das kann man am besten, indem man sich selbst informiert und sich fragt, was Antisemitismus überhaupt ist. Dazu gibt es vielfältige Gelegenheiten, zum Beispiel auch auf meinen Internetseiten. Sich also vorzubereiten auf eine Situation, in der man mit Antisemitismus konfrontiert werden kann. Oftmals geraten Menschen in diese Lage und wissen dann nicht, was sie sagen, wie sie reagieren sollen. Das Mindeste, das man da dann sagen können muss, ist, dass man nicht einverstanden ist mit dem, was der Andere da äußert. Zudem gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten für kleine Initiativen, zum Beispiel mal einen Stolperstein vor einem Haus in der Nachbarschaft zu reinigen oder ein kleine Gedenkfeier für die Opfer zu organisieren am 9. November oder am 27. Januar, etwa mit den Menschen, die in dem Haus heute wohnen. Bürgerschaftliches Engagement auch im Kleinen zeigen, das kann wirklich jeder tun.

Wo fängt der Antisemitismus an, wo hört er auf?

Er fängt dort an, wo von der Eigenschaft eines einzelnen Menschen auf eine ganze Gruppe geschlossen wird. Das zeigt übrigens, dass jeder Mensch Opfer einer antisemitischen Anfeindung werden kann. Man muss nicht unbedingt Jüdin sein oder Jude. Da sind beispielsweise diese Klischees: „Der kann ja besonders gut mit Geld umgehen – wie ein Jude!“. Das ist klar antisemitisch. Oder: „Der hat eine krumme Nase wie ein Jude!“. Wenn also aus einzelnen Eigenschaften auf eine ganze Gruppe geschlossen wird und umgekehrt natürlich auch, wenn vermeintlich kollektive Eigenschaften „der Juden“ auf eine einzelne Person projiziert werden, dann reicht das schon.

Stichwort Erinnerungskultur. Wie wichtig ist die Erinnerung insbesondere in Regionen, denen zum Beispiel große Museen und Gedenkstätten fehlen?

Viele jüdische Museen machen mobile Angebote, ebenso wie NS-Dokumentationszentren. In Schulen könnten Projekte angeregt werden, Spuren jüdischen Lebens in dem jeweiligen Ort sichtbar zu machen und daraus Erinnerungsprojekte zu machen. Es gibt hervorragende Schulprojekte, bei denen Jugendliche dazu ermuntert werden zu fragen, ob es in ihrer Schule jüdische Schülerinnen und Schüler gegeben hat und was ihnen passiert ist. Dann geht man in die Archive oder recherchiert online, zum Beispiel bei Yad Vashem. Ich fördere beispielsweise ein Projekt, in dem es um etwas ganz Ähnliches geht. Es heißt: Feuerwehren in der NS-Zeit und wird in Zusammenarbeit unter anderem mit dem Deutschen Feuerwehrmuseum in Fulda realisiert. Es richtet sich an Feuerwehrleute bundesweit und regt dazu an, sich mit der Frage zu beschäftigen, ob es in der heimischen Wehr Juden gegeben hat und wie diese die Ausgrenzung, die Diskriminierung im Nationalsozialismus wahrgenommen haben. Denn wahrscheinlich können sich heute immer weniger Menschen vorstellen, wie Juden aus dem gesamten gesellschaftlichen Leben herausgedrängt wurden Auch wird die Frage aufgeworfen, wie es die Nazis geschafft haben, dafür zu sorgen, dass die Feuerwehren nicht gelöscht haben, als im November 1938 die Synagogen und jüdische Häuser brannten. Das ist ja ein krasser Verstoß gegen den Diensteid eines jeden Feuerwehrmannes.

In wie fern kann auch die Musik ein Instrument sein gegen den Antisemitismus?

Die Musik kann eine sehr wichtige, hervorragende Rolle spielen. Auch indem sie zeigt, welchen Wahnsinn sich unser Land angetan hat, als jüdische Menschen vertrieben, verfolgt und ermordet wurden. Deswegen sind wir hier mit Adrienne Haan: Wir wollen Songs spielen, die vielen im Ohr sind und von denen die Menschen aber nicht wissen, dass es jüdische Komponisten waren, die sie geschrieben haben – „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ stammt zum Beispiel von Friedrich Hollaender. Viele kennen das Stück, wissen aber nicht, dass es von einem jüdischen Komponisten ist, ebenso wie das Lied „Johnny, wenn du Geburtstag hast“. Mit der Präsentation dieser populären Lieder zeigen wir, welchen Wahnsinn sich dieses Land angetan hat, als es sich seine eigene Kultur abgeschnitten hat.

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Wie politisch ist Ihre Musik? Und wie viel Musik steckt in Ihrer politischen Arbeit?

Ich bin sehr froh, dass ich das Privileg hatte, das Geigenspiel zu lernen, und die Möglichkeit zu haben, dieses Hobby politisch zu nutzen. Musik berührt die Seele. Dadurch kann man Emotionen auslösen, das ist nicht nur wichtig für eine Erinnerungskultur, sondern auch für die politische Arbeit, wenn es darum geht, Empathie zu entwickeln für andere Menschen. 

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