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Betreuung im AlterRhein-Berg ist im Notstand der Pflege angekommen

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Eine Pflegefachkraft legt einen Kompressionsverband an einem Fuß an.

Eine ambulante Pflegekraft legt einen Druckverband an.

Mit einem akuten „Notstand in der Pflege“ hat sich der Kreisgesundheitsausschuss befasst. Eine Bestandsaufnahme mit vielen offenen Fragen.

„Ich sag’s mal auf Deutsch: Die Hütte brennt!“ Es war ein sehr markantes letztes Wort, das der grüne Kreistagsabgeordnete Jürgen Langenbucher sprach, nachdem der Sozialausschuss zuvor am Montagabend ausgiebig über den Notstand in der Pflege gesprochen hatte. Langenbucher: „Der Notstand kommt nicht erst, den haben wir schon vor der Haustür.“

Was in Rhein-Berg, laut Sozialderzenent Markus Fischer der „viertälteste Kreis in NRW“, droht beziehungsweise vor der Tür steht, darauf weisen verantwortliche Sozialpolitiker, Sozialverwalter und Pflegedienst-Betreiber schon seit Jahren hin. Und haben auch schon mal, etwa in Overath, hoch motivierte Pfleger aus Mallorca angeworben.

Einigkeit im Kreistag, dass politischer Druck nötig ist

Einen Beschluss zur sofortigen Abschaffung des Pflegenotstandes bekamen die „hybrid“ im Kreishaus tagenden Politiker beim Pflegenotstand zwar nicht hin. Das wäre ja auch zu schön. Sie waren sich aber parteiübergreifend einig, bei ihren jeweiligen Landes- und Bundestagsabgeordneten Druck zu machen, damit diese wiederum auch Druck machen: zum Beispiel auf die Pflegekassen.

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Denn den Kassen kam am Montagabend die Schurkenrolle zu: weil sie ihren Job nicht richtig erledigten. Zunächst hörten die Ausschussmitglieder einen Vortrag über die Auswirkungen des Tariftreuegesetzes. Folgt man dem Chef des in Rhein-Berg und Oberberg tätigen Pflegedienstleisters „Lebensbaum“, Bernhard Rappenhöhner, bringt die gesetzliche vorgeschriebene Lohnanhebung die ambulanten privaten Anbieter in die Bredouille: Sie wissen nicht mehr, wie sie ihre Leute bezahlen sollen, weil nämlich die Kassen ihrem gesetzlichen Auftrag der Pflegefinanzierung nicht ausreichend nachkämen.

Zusätzliche Probleme gebe es darüber hinaus auch für stationäre und teilstationäre Anbieter, also etwa Heime. Rappenhöhner: „Wir haben eine so extreme Kostensteigerung bei der Pflege, dass wir uns die Frage stellen müssen: Wird Pflege eigentlich unbezahlbar?“ Derzeit sei unklar, wie viele Dienste aktuell bedroht seien und wie viele schon aufgegeben hätten. Rappenhöhner: „Im Oberbergischen Kreis weiß ich von drei Diensten, die aufgehört haben.“

Mehrere ambulante Anbieter akut bedroht

In Rhein-Berg seien „mehrere“ Dienste akut bedroht, und auf Nachfrage: Seines Wissens gelte dies für ein Viertel der 61 Pflegedienste. Überdies habe die gesetzlich veranlasste Lohnerhöhung dazu geführt, dass Mitarbeiter ihre Stellen reduzierten und in Teilzeit gingen. Bemerkenswert fand er den Satz der Bensberger Schöffengerichtvorsitzenden beim Freispruch von fünf Pflegern: „Auf die Anklagebank gehört eigentlich der Pflegenotstand.“

Sozialdezernent Markus Fischer sagte zur Situation in der Pflege, dass bereits heute über 190 Fachkräfte-Stellen im Kreis vakant seien. Bis 2024 werde die Zahl auf über 600 steigen, „sofern wir nicht gegensteuern“. Die Lage sei kritisch: „Wir können uns ein Wegbrechen von Angeboten nicht leisten.“

Caritas-Chefin schildert dramatische Lage

Caritas-Chefin Raphaela Hänsch ergänzte die betriebswirtschaftlichen Ausführungen des Sprechers der privaten Pflegedienste und stellte die Situation der Beschäftigten in den Mittelpunkt. „Auch wir erleben, dass die Mitarbeiterinnen ausgebrannt sind. Manche wechseln zum nächsten Dienst in der Hoffnung, dass es weniger Druck gibt. Der Druck entsteht aber vor allem dadurch, dass man zu oft aus dem Frei geholt wird.“

In Sachen Pflege gibt es laut es Caritas-Chefin eine verkehrte Welt: „Die Menschen gehen inzwischen in Zeitarbeitsfirmen. Früher fand man dort diejenigen, die nicht so gut untergekommen waren. Das ist heute anders. In einer Zeitarbeitsfirma habe ich ganz klar die Möglichkeit zu sagen: Ich kann nur bestimmte Dienste machen.“

Auch die Caritas habe Kunden bereits Verträge kündigen müssen, was sehr schmerzlich sei. Fassungslos und schockiert zeigten sich Ausschussmitglieder der diversen politischen Kräfte im Kreistag angesichts der Lage. Zwei kurzfristig eingereichte Anträge der SPD, die sich mit der Situation ausländischer Pflegekräfte befassen, wurden zunächst einmal vertagt.


Rheinisch-Bergischer Kreis hat hohen Anteil an Seniorinnen und Senioren

Der Rheinisch-Bergische Kreis ist laut Pflegebericht 2019 der Kreis mit dem dritthöchsten Anteil über 65-Jähriger in NRW. Im Jahr 2040 wird danach knapp ein Drittel der Bevölkerung 65 Jahre oder älter sein und der Anteil der Bevölkerung, der 80 Jahre und älter ist, wird bis 2040 die Zehn-Prozent-Marke überschreiten. Laut Destatis, dem gemeinsamen Statistik-Angebot des Bundes und der Länder im Internet, hat sich im Rheinisch-Bergischen Kreis die Zahl der Pflegebedürftigen von 2009 bis 2019 fast verdoppelt, und zwar von 8187 Männer und Frauen auf 16.252.

Die Zahl der ambulanten Pflege- und Betreuungsdienste hat sich nach Angaben der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder im Rheinisch-Bergischen Kreis von 2009 bis 2019 von zunächst 39 auf dann 47 erhöht, die Zahl der dort Mitarbeitenden von 920 auf 1430.

Einen enormen Zuwachs gab es laut Destatis auch bei den Pflegeheimen. Ihre Zahl wuchs von 26 auf 40, die Zahl der Plätze von 2471 auf 3017 und die Zahl der Mitarbeitenden von 2177 auf 2825 Männer und Frauen. Mehr Frauen als Männer werden pflegebedürftig; der Männeranteil steigt aber. (sb)

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