Früher haben vielen Ärzte Menschen mit Autismus nicht richtig einschätzen können, wie sich Dr. Silvia Neugröschel erinnert.
„Wir gucken uns jedes Puzzleteilchen an“Neues Autismus Therapiezentrum in Bergheim eröffnet

Besucher konnten verschiedene spielerische Aufgaben erledigen, um etwas über Autismus zu lernen.
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Es hat sich einiges getan, seitdem Dr. Silvia Neugröschel im Jahr 2001 „Autismus Aachen“ gegründet hat. Autismus sei damals ein Novum gewesen, erzählt sie. „Viele Ärzte haben sich darunter etwas in die Richtung vorgestellt: Der Autist sitzt in der Ecke, dreht mit den Augen herum und will von nichts etwas wissen. Das ist aber nicht die Realität.“
Mittlerweile sei das Phänomen den Menschen besser bekannt, meint Neugröschel, weswegen es auch mehr Diagnosen gebe. Umso wichtiger, dass sich „Autismus Aachen“ zunehmend professionalisiert hat: Heute betreibt das Unternehmen als gemeinnützige GmbH Therapiezentren in Aachen, Horrem, Düren und seit neuestem auch in Bergheim.
Bergheim: Eröffnung des neuen Therapiezentrums
Zur Eröffnung des Therapiezentrums in Bergheim richteten die Mitarbeitenden einen Sensorik-Pfad ein. Damit konnten Gäste nicht nur die einzelnen Räume der Einrichtung kennenlernen, sondern sich auch spielerischen Aufgaben widmen, die ihnen die Denkweisen und Herausforderungen von Menschen mit Autismus nahelegten. So konnten Besucherinnen und Besucher anhand eines viergeteilten Porträt-Fotos einschätzen, ob die dargestellte Person Angst, Überraschung, Freude, Trauer oder Ekel zeigt.
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Der Sensorikpfad beschrieb auch, wie feste Abläufe hilfreich sein können, etwa beim Zähneputzen oder Händewaschen, oder welches Spielzeug einem autistischen Kind gerecht wird, das einen hohen Bedarf nach Struktur und klaren Anweisungen hat. Setzt man es schlichtweg vor eine Kiste voller Bausteine, ist es vielleicht eher gelangweilt, als wenn es eine Bauanleitung dazu bekommt, die ihm klare Vorgaben macht und den Prozess strukturiert. Andere Stationen machten darauf aufmerksam, dass Menschen mit Autismus weniger Außenreize herausfiltern als neurotypische Menschen, und deshalb je nach Umfeld Schwierigkeiten haben können, sich auf eine bestimmte Aufgabe zu konzentrieren.
Menschen mit Autismus haben unterschiedlichste Biografien
Aber wie jede Gruppe von Menschen sind auch Autisten nicht alle gleich. Entsprechend unterschiedlich sind auch die Lebensbiografien der Menschen, die das neue Therapiezentrum in Bergheim besuchen, wie Fachbereichsleiterin Nicole Immer erzählt. Der älteste Klient sei über 60, der jüngste zweieinhalb. Teilweise haben die Klienten bereits früh eine Autismus-Diagnose bekommen, etwa weil sie im Kindergarten aufgefallen sind.

Zur Eröffnung waren auch Dr. Silvia Neugröschel (l.) und Nicole Immer (2v.r.) mit dabei.
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Eine Person, die erst als Erwachsene diagnostiziert wurde, bringe hingegen ganz andere Themen mit, etwa Freundschaften, Beziehungen, Arbeiten im Team, im Beruf oder gar Schwierigkeiten dabei, einen Arbeitsplatz zu finden. „Außerdem gibt es sehr unterschiedliche Ausprägungsgrade von dem, wie der Autismus sich zeigt“, sagt Immer. „Von nicht sprechenden bis hin zu hochfunktionalen Menschen, bei denen man es vielleicht auf den ersten Blick nicht erkennt, die aber dennoch einen hohen Leidensdruck haben, weil es vielleicht Schwierigkeiten in der zwischenmenschlichen Kommunikation oder der Sinneswahrnehmung gibt.“
Eine Therapie kann den Leidensdruck verringern
Um genau diesen Leidensdruck zu verringern, brauchen Menschen aber ganz unterschiedliche Dinge. „Wir gucken uns jedes einzelne Puzzleteilchen an“, sagt Nicole Immer. „Was bringt diese Person mit, was kann sie, welche Ressourcen sind da und was kann sie vielleicht noch nicht? Wenn keine Sprache da ist, was gibt es vielleicht für Alternativen? Können wir mit Bildmaterial arbeiten? Hat sie ein Verständnis für das Digitale, zum Beispiel für einen Talker?“ So ein Talker ist wie eine Art Tablet und zeigt dem Anwender Bilder, auf die er drücken kann. So kann der Anwender anhand der Bilder Satzbausteine bilden, die das Gerät dann abspielt.

Mit einem Talker kann ein Anwender auf Bilder drücken, um Sätze zu bilden.
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Führen die Therapeutinnen solche Hilfsmittel ein, können Menschen mit Autismus, die vorher Schwierigkeiten in der Kommunikation hatten, besser ihre Bedürfnisse artikulieren. „Zum Beispiel Gummibärchen einfordern“, sagt Nicole Immer. „Was vorher vielleicht nur mit Schreien, Brüllen und Ziehen an der Mama möglich war, um auf irgendwas aufmerksam zu machen.“
Auch die Gesellschaft braucht Wissen über Autismus
Piktogramme sind generell ein Thema im Therapiezentrum. An den Schubladen in der Küche etwa zeigen kleine quadratische Bilder, wo die Gabeln zu finden sind, und vor jeder Tür stehen drei Piktogramme mit Text, die darauf hinweisen, an einer verschlossenen Tür erst zu klopfen, bevor man sie öffnet. Die Hürden sollen so gering wie möglich sein. „Es wird viel visualisiert“, sagt Nicole Immer. „Wir versuchen, alles gut zu strukturieren. Das ist grundsätzlich schon mal was, was sehr förderlich ist, nicht nur für Menschen mit Autismus. Wir selbst profitieren da auch von.“
Die Arbeit hört aber nicht hinter der Tür des Therapiezentrums auf, wie Silvia Neugröschel erklärt. „Ganz wichtig ist, etwas für die Öffentlichkeit beizusteuern. Denn was nützt es, wenn jemand hier einmal in der Woche eine Stunde verbringt und dann die Lehrer in der Schule oder der Betreuer im Wohnheim das nicht mitmachen?“