Lieferketten im DauerstressWeltwirtschaftsforum diskutiert über Abhängigkeiten

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Ein britischer Supermarkt weist seine Kunden darauf hin, dass jeder maximal drei Flaschen kaufen darf.

Ein britischer Supermarkt weist seine Kunden darauf hin, dass jeder maximal drei Flaschen kaufen darf.

Davos – Wenn sich hochrangige Politiker berufen fühlen, zum Schutz der freien und offenen Weltmärkte aufzurufen, dann muss es um die Globalisierung schlecht stehen. Die wirtschaftliche und politische Elite diskutiert angesichts der Probleme mit Lieferungen aus Asien und wegen des Ukraine-Kriegs wieder über die Risiken zu großer Abhängigkeit von bestimmten Lieferanten. Erst waren Elektronikchips kaum zu bekommen. Derzeit schnellen die Energiepreise hoch – und bald droht eine Nahrungsmittelkrise.

Spitzenpolitiker wie Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck lassen auf dem Treffen des Weltwirtschaftsforums in Davos zwar keinen Zweifel daran, dass eine Abkehr von der Globalisierung keine Lösung der Probleme ist. Doch die Regeln müssten sich schon ändern, um widerstandsfähiger zu werden, sagte der Grünen-Politiker.

Selenskyj beklagt Uneinigkeit

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat den westlichen Ländern mangelnde Einigkeit bei ihrer Unterstützung der Ukraine vorgeworfen. Bei seinem zweiten Videoauftritt in Davos bedankte sich Selenskyj für die Unterstützung der USA. Als europäisches Land brauche die Ukraine aber vor allem „die Unterstützung eines vereinten Europas“, betonte der Staatschef. Er kritisierte dabei Ungarn, das seine Zustimmung zu einem EU-weiten Öl-Embargo gegen Russland verweigert, und verwies auf den Widerstand der Türkei gegen den Nato-Beitritts Finnlands und Schwedens. „Ist der Westen also vereint? Nein“, sagte Selenskyj. (afp)

Die Invasion Russlands in der Ukraine hat die schon in den vergangenen Jahren offenkundigen Probleme rasant verschärft. Der deutschen Industrie fehlen Zulieferteile aus Osteuropa und das Eingreifen der Pekinger Führung in Sachen Corona-Bekämpfung wiegt schwer. Kein Wunder, dass sich die Unternehmen fragen, ob es so weitergehen kann. „Wird die Welt künftig noch die gleiche sein für die Wirtschaft? Im Energiebereich auf keinen Fall“, sagt Jean-Marc Ollagnier, Europachef des Beratungsriesen Accenture. „Und auch bei Lebensmitteln –mit allem, was in den nächsten Monaten kommt – glaubt keiner daran, dass alles wieder so wird, wie es war.“

Durch den Krieg habe die europäische Wirtschaft mindestens ein Jahr verloren. „Aus China rollt auf uns in den kommenden sechs bis neun Monaten ebenfalls ein massives Problem zu wegen der Lockdowns und fehlender Industrieproduktion“, sagt Ollagnier.

Jede Störung kommt durch

„Um ehrlich zu sein ist die Situation in China mit den Lockdowns derzeit die größte Herausforderung, weil sie eine riesige Auswirkung auf den Transport hat“, meint auch Andrea Fuder, Einkaufschefin beim schwedischen Lkw-Hersteller Volvo. „Und das in einem System, das superfragil ist, weswegen jede Störung zu uns durchkommt.“ In der Vergangenheit sei das durch Lagerbestände abgepuffert worden. Aber die sind im Moment niedrig. Die Lage ist für Fuder eine Art historische Lieferkrise. „Und ich hoffe wirklich, dass das nicht der neue Normalzustand ist“, sagt die Managerin.

Volkswagen-Chef Herbert Diess sieht zwar in China bei den Corona-Beschränkungen ein Licht am Horizont, und auch insgesamt dürften sich die stotternden Lieferketten dieses Jahr etwas entspannen. Doch gleichzeitig warnt der Manager vor Blockbildung in der Welt, vor neuer Abschottung. „Ich denke, wir sollten nicht zu sehr auf Selbstversorgung setzen“, sagt er. „Nationen und große Blöcke, die zum Selbstversorger werden, sind für mich ein großes Risiko einer sich abschottenden Welt.“

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Also wo geht die Reise hin? Zu mehr Produktion vor Ort, hin zu weniger globalem Handel? Christina Raab, Accenture-Chefin für Deutschland, Österreich und die Schweiz, sieht in den Vorstandsetagen zumindest Überlegungen in diese Richtung. „In der Wirtschaft haben sich die Diskussionen rund um Lieferketten komplett gewandelt, weil niemand davon ausgeht, dass wir zu einer Art Vor-Corona-Zustand zurückkehren“, stellt sie fest. „Mittelfristig sehen sich viele Firmen an, ob sie nicht regionale Lieferketten und eine regionale Produktion, die in Krisen womöglich stabiler sein können, nicht wenigstens als Option in der Hinterhand haben sollten“, sagt die Expertin.

Nur um den Kirchturm herum Teile zu beziehen, sei aber nicht die Lösung, sagte Fuder. Das hätte auch unerwünschte Effekte auf Schwellen- und Entwicklungsländer. Europa habe ohnehin kaum Rohstoffe, sei also auf Zulieferungen angewiesen. Besser werden müsse die Wirtschaft unter anderem bei Recycling und der Weiternutzung von Materialien. (dpa)

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