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Interview

SPD-Verteidigungsexpertin
„Deutschland ist der zentrale Dreh- und Angelpunkt“

Lesezeit 4 Minuten
In der vergangenen Legislaturperiode war Siemtje Möller als Parlamentarische Staatssekretärin im Verteidigungsministerium tätig. Derzeit sitzt sie im Vorstand der Nato-Lobbyorganisation „Atlantische Gesellschaft“.

In der vergangenen Legislaturperiode war Siemtje Möller als Parlamentarische Staatssekretärin im Verteidigungsministerium tätig. Derzeit sitzt sie im Vorstand der Nato-Lobbyorganisation „Atlantische Gesellschaft“.

SPD-Verteidigungsexpertin Siemtje Möller spricht im Interview darüber, was die Bundeswehr braucht und wie sie den Angriff auf die Ukraine erlebt hat

Als Staatssekretärin im Verteidigungsministerium erlebte Siemtje Möller die Zeitenwende hautnah. Im Interview mit Luise Charlotte Bauer und Tim Prahle sagt sie, was man jetzt von den Bundeswehr-Milliarden kaufen muss und ob es eine Wehrpflicht braucht, wie Bundeskanzler Friedrich Merz jüngst andeutete.

Frau Möller, Sie waren 2022 Parlamentarische Staatssekretärin im Verteidigungsministerium. Wie haben Sie den Angriff Russlands auf die Ukraine erlebt?

Ich wurde nachts um drei Uhr von meinem Büroleiter angerufen und verfolgte dann live im Fernsehen, wie die russische Invasion begann. Gerade zu Beginn war nicht klar, ob sich die Ukraine gegen den russischen Einmarsch verteidigen kann. In kürzester Zeit haben wir dann die außenpolitische Doktrin der Bundesrepublik komplett verändert.

Das heißt?

Vorher haben wir – bis auf eine einzige Ausnahme, die Unterstützung der Kurden im Irak im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) – keine Waffen in Krisengebiete geliefert. Als wir die furchtbaren Bilder aus der Ukraine gesehen haben, war uns und unseren europäischen Partnern dann aber vollkommen klar, dass wir die Ukraine auch militärisch unterstützen müssen, damit sie in ihrem Abwehrkampf gegen Russland bestehen kann – und dies auch völkerrechtlich gedeckt ist.

Was mussten Sie als Erstes tun?

Zunächst brauchten wir überhaupt erstmal einen Weg, über den die Ukraine ihre Bedarfe an uns übermitteln konnte. Dazu haben wir die Versorgung von ukrainischen Verletzten in deutschen Krankenhäusern organisiert. Und auf der politischen Ebene galt es vor allem, den Zusammenhalt der Europäischen Union zu sichern und gemeinsam umfassende Sanktionen auf den Weg zu bringen. Das war wirklich sehr, sehr viel Arbeit. Parallel dazu gab es dieses furchtbare Gefühl: In unserer unmittelbaren Nachbarschaft geschieht ein Verbrechen von historischem Ausmaß – das muss man ja auch erst einmal für sich selbst fassen.

Wie sieht die militärische Rolle Deutschlands in der Zukunft aus?

Deutschland ist mit seiner Lage im Herzen Europas der zentrale Dreh- und Angelpunkt für die Verteidigung unseres Kontinents. Das gilt zum einen ganz praktisch: Wir sind logistisch die zentrale Drehscheibe für militärische Bewegungen – zu Land, zu Wasser und in der Luft. Zum anderen haben wir als wirtschaftlich stärkstes und bevölkerungsreichstes Land in Europa auch eine besondere Verantwortung innerhalb der Nato.

Unsere Bündnispartner erwarten zu Recht, dass wir einen substanziellen Beitrag leisten. Deshalb ist es richtig und notwendig, dass wir unsere Verteidigungsausgaben weiter erhöhen und den Nato-Beschluss, 3,5 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt für Verteidigung bereitzustellen, mittragen. Bundesfinanzminister Lars Klingbeil hat die Weichen dafür gestellt.

Und das ist gut so?

Das ist gut so – weil es leider notwendig ist. Der Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, geht in das vierte Jahr und trotz der massiven menschlichen wie materiellen Verluste, rüstet Russland weiter auf. Inzwischen fließen rund sieben Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts in das Militär, die gesamte Wirtschaft ist faktisch auf Kriegsproduktion umgestellt. Auf diese Bedrohungslage müssen wir reagieren und selbst in unsere Verteidigungsfähigkeit investieren. Da führt kein Weg dran vorbei.

Und was will man von dem ganzen Geld dann kaufen? Panzer und Artillerie oder doch neue Technologien?

Wir haben vor dem Ukraine-Krieg damit gerechnet, dass Kriege vermehrt im digitalen Raum stattfinden und klassische Waffensysteme wie Panzer immer unwichtiger werden. Der Ukraine-Krieg zeigt nun: Es ist ein hybrider Krieg, aber einer, der weit mehr traditionelle Rüstungsgüter erfordert, als viele erwartet haben. Für die Bundeswehr heißt das: Wir brauchen beides – Cyberabwehr und Drohnen genauso wie Artillerie und Panzer.

Der Truppe fehlen nicht nur Waffen, sondern vor allem Personal. Bleibt der „neue Wehrdienst“ freiwillig?

Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass der neue Wehrdienst „zunächst“ auf Freiwilligkeit basiert. Entscheidend für mich ist, dass der neue Wehrdienst durch attraktive Rahmenbedingungen und zusätzliche Anreize – etwa einem kostenlosen Führerschein – flankiert wird. Ich bin mir sicher, dass wir darüber ausreichend Freiwillige finden werden.

Also erkauft sich die Regierung damit Zeit?

Es bestreitet ja niemand, dass die Bundeswehr derzeit weder personell noch materiell darauf ausgelegt ist, zehntausende junge Menschen auf einmal auszubilden. Deshalb wird der neue Wehrdienst mit einer für die Truppe planbaren Zahl Freiwilliger starten. Klar ist aber auch: Parallel müssen wir Unterbringungs- und Ausbildungskapazitäten ausbauen, damit die Zahl der Wehrdienstleistenden in den kommenden Jahren steigen kann.

Rund ein Viertel neuer Rekruten brach den Dienst während der Probezeit ab, teilweise auch wohl auch aus Langeweile. Verspricht die Bundeswehr bei der Anwerbung zu viel?

Grundsätzlich ist die Abbruchquote im Verhältnis zu anderen Ausbildungszweigen nicht unverhältnismäßig hoch. Wir wissen, dass junge Leute sich häufiger mal umentscheiden, und dementsprechend liegt die Bundeswehr im Schnitt.

Gleichwohl gilt: Wenn Rekrutinnen und Rekruten aus Langeweile abbrechen, haben wir Verbesserungsbedarf. Viele kommen zur Bundeswehr, weil sie im Team komplexe Aufgaben lösen und möglichst schnell an das Gerät herangeführt werden wollen, das sie interessiert. Genau da müssen wir ansetzen – mit praxisnaher, fordernder Ausbildung und klaren Entwicklungsperspektiven.