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Mein VeedelJürgen Becker liebt Ordnung und Anarchie in Zollstock

Lesezeit 6 Minuten
Ein Mann sitzt auf dem Bürgersteig am Rande einer von Metall-Absperrungen begrenzten Grünfläche.

In der Kröver Straße spielte Jürgen Becker einst als Panz mit Matchbox-Autos und zwar genau da, wo er jetzt wieder sitzt. 

Einen Teil seiner Kindheit verbrachte der Kabarettist Jürgen Becker in Zollstock. Er schätzt das Veedel wegen seiner Mixtur aus Anarcho-Charme und Siedlungscharakter.

„Da oben im dritten Stock habe ich gewohnt, der Balkon mit der Plastikpflanze.“ Jürgen Becker steht auf der kleinen Grünfläche vor dem Wohnhaus seiner Kindheit in der Kröver Straße 1 in Zollstock. Es sind mehrgeschossige Reihenhäuser, die hier nahe dem Höninger Weg nach dem Krieg den Ausgebombten zur Verfügung gestellt wurden. „Meine Oma bekam diese Wohnung, die sie dann meiner Mutter und meinem Vater überließ. Mit meinem jüngeren Bruder und den Kindern aus der Nachbarschaft habe ich hier immer im Matsch gespielt. Mit Matchbox-Autos.“ Spricht‘s und legt sich in Pose für den Fotografen. „Denn Rasen betreten war verboten.“

Ein Mann geht auf einer Straße, an denen Autos geparkt sind und einige Schilder am Rand auf Betriebe schließen lassen.

Jürgen Becker liebt „das Grobe“ an der Ansammlung von Werkstätten hinter dem Höninger Weg.

Los geht es nach Plaudereien mit diversen Nachbarn, die ihn selbstverständlich erkennen, zum Spaziergang durch sein altes Veedel. Vom  Höninger Weg biegen wir in die Herthastraße ein. Am Büdchen an der Ecke fragt Becker nach der Motorrad-Legende Reinhard Scholtis, der ein paar Häuser weiter in einem kleinen Ladenlokal hinter vergilbten Gardinen noch immer eine Werkstatt hat. Motorisierte Zweiräder sind  die große Leidenschaft von Jürgen Becker. „Mit 15 hatte ich meine erste Mofa, die ich natürlich frisierte. Und dann wieder zurückbauen musste, wenn die Polizei mich erwischt hatte. Lust an der Mechanik hatte ich schon immer“, erinnert er sich schmunzelnd.

Ein Mann mit weißem Haar und ein älterer, der einen goldenen Siegerkranz hält, stehen in einem Raum, der voll ist mit Pokalen und Rennfahrer-Memorabilia.

Jürgen Becker trifft auf Motorradfahrer-Legende Reinhard Scholtis.

Die Begegnung mit dem „Fliegenden Bleistift“ Reinhard Scholtis findet dann aber nicht in dessen winziger Werkstatt, sondern in seiner Wohnung statt, die nebenan im zweiten Stockwerk liegt. Auf das spontane Läuten an der Haustür öffnet der 92-Jährige, der sich sichtlich über die interessierten Besucher freut. In seiner Küche stapeln sich Pokale, Siegerkränze und Teile von Motorrädern. Bilder aus seiner aktiven Zeit hängen an den Wänden. Vor allem in den 60er-Jahren fuhr Scholtis allen davon. „Ich halte immer noch zwei Rundenrekorde auf dem Nürburgring“, erzählt der rüstige Rennfahr-Rentner.

Kommunion in Köln-Widdersdorf

Scholtis berichtet, wie er vor 60 Jahren an einer Thermo-Siphon-Kühlung tüftelte, die seinem Renn-Motorrad Geschwindigkeiten bis zu 250 Kilometern in der Stunde ermöglichte. Nach einem herzlichen Abschied geht es weiter die Herthastraße entlang Richtung St. Pius. Die Kirche weckt bei Becker die Erinnerung an seine eigene „Kommelion“ in Widdersdorf. Dorthin war die Familie umgezogen, als er acht Jahre alt war, das Sonntags-in-die-Kirche-gehen und die Kommunion gehörten  zur Familien-Routine.

Mit dem Mofa fuhr Becker zu seiner Realschule in der Gravenreuthstraße. Auch seine Lehrzeit verbrachte er in Ehrenfeld, mit dem Stadtteil verbindet er gute Erinnerungen. „Ich konnte von meinem Büro im 4711-Gebäude das Haus von Günter Wallraff sehen. Seine Bücher und Schriften haben mich damals politisiert.“

Ein Mann in Lederjacke und weißem Haar hält ein buntbemaltes Tor auf.

Jürgen Becker am Tor der Rosenzweigschule

Von der Irmgardstraße aus geht es weiter über die Ferdinand-Schmitz-Straße zur Rosenzweigschule, Beckers alter Grundschule. „Eine Lehrerin nahm uns damals mit in die Kneipe Zollstocker Hof. Dort hing ein Bild von einem Stadtsoldaten, der an einer Schranke Zoll einnahm, denn deshalb heißt das Viertel Zollstock“. Den Eindruck, den die verrauchte Kneipe voller älterer Männner, die den jungen Gästen ihre Alt-Herren-Kommentare auf Kölsch zuriefen, hat er nie vergessen. Es war ein Schulausflug der besonderen Art.

Die Riphahn-Siedlung in Köln-Zollstock stammt aus den 20ern

Wir biegen rechts ab in die Vorgebirgstraße und bald darauf noch einmal rechts in die Breniger Straße. Die Bebauung dort ist Teil einer Riphahn-Siedlung. „Ich mag Zollstock wegen seiner Siedlungsarchitektur aus den 20er- und 50er-Jahren“, sagt Becker. Der Stadtteil werde im Übrigen unterschätzt, hier gebe es sehr viel Grün und manchmal noch bezahlbaren Wohnraum.

20.05.2025, Köln: Veedelsspaziergang durch Zollstock mit Jürgen Becker.
Im Bild Häuser an der Breiiger Straße.

Foto: Michael Bause

Die Häuser an der Breniger Straße sind Teil einer Riphahn-Siedlung aus den 1920er-Jahren.

Nach der geordneten Bauhaus-Architektur zwischen Vorgebirgstraße und Gürtel zieht es Becker aber noch magisch zu einem Ort der etwas anderen Art in Zollstock. „Wir müssen unbedingt noch in die Favelas“. Über die Walberberger Straße geht es zurück  zum Höninger Weg. In Höhe der Haltestelle der Linie 12 neben einem leerstehenden Autohaus biegt Becker ab. Hier tragen alle Hausnummern den Zusatz Höninger Weg B.

Ein Mann mit grauem Haar und ein jüngerer Mann mit dunklem zusammengebundenem Haar sitzen auf einer Bank vor einem Lokal.

Jürgen Becker und Niklas Lütkemeyer, der am Höninger Weg die Crêpe Bude betreibt.

Am Straßenrand erhebt sich ein Sammelsurium eingeschossiger Bauten, manche haben Wellblech-Flachdächer, manche erinnern an Schrebergarten-Lauben, andere sind einfache Ziegelbauten, in denen Werkstätten oder Schrott- oder Baustoffhandlungen untergebracht sind. Becker nennt sie Favelas, wie die Bezeichnung für Wildwuchernde Elendsviertel am Rande von brasilianischen Großstädten. „Eine Stadt braucht auch das Grobe“, findet Becker und steuert auf die Vespa-Werkstatt von Bülent Basakoglu zu, bei dem er schon mal ein Moped reparieren ließ.

Auf einer ausgebauten Autositzbank, die am Straßenrand steht, sitzt ein Mann mit ausgestreckten Beinen.

Die Gewerbe-Siedlung am Höninger Weg nennt Becker Favelas"

Das Abgerockte und Guerillamäßige der Siedlung hat für Becker neben dem Favela-Charme auch etwas von Amerika… die Werbeschilder am Asphaltrand, die staubigen Autositze, die jemand an der einzigen Kreuzung abgestellt hat, das alles hat für ihn auch etwas von „High Noon in Texas“. Mit breitem Schritt à la Gary Cooper geht er die Schlaglöcher-reiche Straße herunter.

Scheibenbremse in Rostoptik

Und noch eine Station in den „Favelas“ liegt ihm am Herzen, nicht überraschend wiederum eine mit Bezug zum Zweirad. Seine rostige  Minsk von 1955 ließ er nach der Umrüstung auf Elektro-Antrieb mit einer neuen Scheibenbremse und einer neuen Radgabel ausstatten. Damit alles ins Gesamtbild passte, ließ er Gabel und Felge in Rostoptik lackieren.  Ausgeführt hat die Arbeit Laura Froch. „Ich finde es toll, wie super sie das hinbekommen hat.“ Die junge Frau macht gerade ihre Abschlussprüfung zur Autolackiererin. Becker wünscht ihr viel Glück und dem Inhaber viel Erfolg bei der Suche nach einem neuen Domizil. Nicht alle Gewerbetreibenden sehen in den Favelas eine Heimat mit Bleibegarantie.

Eine junge Frau und ein Mann mit Bart hocken hinter einem Motorrad.

Autolackierer-Auszubildende Laura Froch ließ Jürgen Beckers Vorderrad alt aussehen.

Jürgen Becker absolvierte seine Lehre bei 4711 in Ehrenfeld, später zog es ihn zur Bühne, als Gründungsmitglied der Stunksitzung hat er längst Kultstatus in seiner Heimatstadt. 28 Jahre moderierte er die Mitternachtsspitzen aus dem Alten Wartesaal. Heute ist er wieder hauptsächlich auf Tour, 120 Abende im Jahr tritt er auf. „Mein Publikum ist von 20 Jahre älter bis 20 Jahre jünger als ich. Menschen unter 46 gehen eher zu jüngeren Comedians. Das ist normal. Ich war früher auch bei Otto und nicht in der Lach- und Schießgesellschaft.“ Was für ihn der Unterschied sei zwischen Comedian und Kabarettist?  „Der Comedian macht es wegen dem Geld, der Kabarettist wegen des Geldes.“

Nachdem die Sache auch geklärt ist und man sich in der Crêpe-Bude am Höninger Weg gestärkt hat, will er aber dringend noch einen Abstecher machen. Nach der Ankunft am Ausgangspunkt des Spaziergangs an der Kröver Straße fährt er dem Reporterwagen auf seiner Minsk voraus zur Zollstocker Indianersiedlung. „Genau solchen bezahlbaren Wohnraum brauchte es viel mehr in der Stadt“, findet Becker, der selbst einmal im Bauwagen lebte. Er liebt den Charme der anarchischen Siedlung, die nach dem Krieg ohne große Bauvorgaben entstanden ist. Einen Insider-Tipp in der „Schicht-Siedlung“ hat er auch noch: Im Café Lilofee gibt es den besten Kuchen, aber nur freitags. Dann steigt er auf seine E-Minsk und entschwindet lautlos. Am nächsten Tag geht es für ihn nach Hamburg, mit Mischpult für sein Programm „Deine Disco - Geschichte in Scheiben“ und dem obligatorischem Freibier im Kofferraum. Das Fässchen Kölsch ist für sein Publikum in der ganzen Republik ein trinkbarer Gruß aus seiner Heimatstadt.

Beckers Empfehlungen: Crêpe-Bude, Höninger Weg 204; Zollstocker Hof, Vorgebirgstraße 189, Cafestübchen Lilofee, Indianersiedlung, nur freitags von 14 bis 18 Uhr und am letzten Sonntag im Monat von 14 bis 18 Uhr