Meilensteine und toxische VermächtnisseEin Rückblick auf 16 Jahre Angela Merkel

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Angela Merkel

Bundeskanzlerin Angela Merkel 

Berlin – Nun ist sie bald ein Teil der Geschichte: Am Abend verabschiedet sich die Bundeswehr mit einem Großen Zapfenstreich von Kanzlerin Angela Merkel. Kommende Woche soll ihr SPD-Nachfolger Olaf Scholz im Bundestag vereidigt werden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in ihren vier Amtszeiten einiges auf den Weg gebracht – hinterlässt aber auch so manche unerledigte Aufgabe. Ein Überblick über Meilensteine und toxische Vermächtnisse.

Klimapolitik

Auf internationaler Bühne mahnte Merkel immer wieder, der Kampf gegen den Klimawandel sei eine Schicksalsfrage für die Welt. Sie hat diesen Kampf wesentlich vorangebracht: Deutschland ist dem Pariser Klimaabkommen beigetreten, mit dem die Erderwärmung verlangsamt werden soll. Der Ausstieg aus der fossilen Energiegewinnung ist eingeleitet. Die Treibhausgasemissionen haben sich im Vergleich zu 1990 um immerhin 40,8 Prozent reduziert. Die Gretchenfrage aber bleibt: Wie lassen sich Klimaschutz und Ökonomie künftig sinnvoll ins Gleichgewicht bringen?

Euro-Rettung

„Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ – mit diesen Worten verteidigte Merkel 2010 den milliardenschweren Rettungsschirm für überschuldete Euro-Staaten. Tatsächlich brachte die Schuldenkrise die EU an die Grenzen der solidarischen Belastbarkeit. Die Hilfen für Griechenland und andere überschuldete Staaten waren an Spar- und Reformprogramme geknüpft. Deutschland gelang es, eine Transferunion zu verhindern – vor allem die Südländer empfanden die Rettungspolitik aber entsprechend als deutsches Diktat. So sind die Versuche, den Euro zu stabilisieren zwar geglückt. Ob das den Zusammenhalt der Gemeinschaft gestärkt hat, steht auf einem anderen Blatt.

Ehe für alle

Vorstöße, die Zivilehe für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen, scheiterten seit der Jahrtausendwende immer wieder am Widerstand aus der Union. Doch nach der Bundestagswahl 2013 vereinbarten CDU/CSU im Koalitionsvertrag mit der SPD, bestehende Diskriminierungen von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften beenden zu wollen. Am 1. Oktober 2017 schließlich trat das Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts in Kraft, obwohl CDU und CSU mit großer Mehrheit dagegen gestimmt hatten – auch die Kanzlerin.

Mindestlohn

Einst war die Ablehnung eines Mindestlohns noch ein Teil von Merkels Programm. 2011 dann die Kehrtwende, um sich gegenüber den Sozialdemokraten weniger angreifbar zu machen. In den Jahren zuvor war der Niedriglohnsektor in Deutschland kontinuierlich gewachsen. 2015 kam der Startschuss. Heute gilt ein Mindestlohn von 9,60 Euro, im Juli 2022 soll er auf 10,45 Euro steigen. Befürchtungen, dass durch den Mindestlohn Arbeitsplätze in großem Stil verloren gehen, haben sich nicht bewahrheitet.

Schuldenbremse

Seit 2011 macht die im Grundgesetz verankerte „Schuldenbremse“ Bund und Ländern Vorgaben zur Reduzierung des Haushaltsdefizits. Denn wie sagte Merkel anlässlich der Finanzkrise 2008: „Man hätte einfach die schwäbische Hausfrau fragen sollen… sie hätte uns eine Lebensweisheit gesagt: Man kann nicht auf Dauer über seine Verhältnisse leben.“ 2020 allerdings schloss Deutschland wegen der Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie erstmals seit sieben Jahren wieder mit einem Haushaltsdefizit ab. Dieses Jahr steht Ähnliches in Haus. Für die einen bleibt die „Schwarze Null“ ein „Würgegriff“, der überfällige Investitionen in marode Infrastruktur verhindert – andere sehen in ihr die Basis für solides Wirtschaften.

Elterngeld

Lange gefordert, 2006 beschlossen, heute eine Selbstverständlichkeit – das im 1. Kabinett Merkel auf den Weg gebrachte Elterngeld erwies sich als entscheidender Schritt hin zu einem Systemwechsel. Über die Jahre nachgebessert ist das Elterngeld heute ein Erfolgsschlager – und spornt auch Väter dazu an, beruflich für ein paar Monate auszusetzen, um Zeit mit dem neugeborenen Nachwuchs zu verbringen. Allein im Jahr 2020 haben rund zwei Millionen Eltern die Familienleistung erhalten.

Corona-Pandemie

Die Corona-Politik der Regierung hat immer wieder Rückschläge erlitten. Gleichwohl kann man der Kanzlerin nicht unterstellen, die Pandemie bagatellisiert zuhaben. Merkel hat mit ihren Einschätzungen oft richtig gelegen. Vielleicht war es nachteilig, zu lange versucht zu haben, den Konsens mit den Ländern zu suchen. Das ist aber in erster Linie dem Föderalismus geschuldet. Angesichts einer so noch nie dagewesenen Pandemie gab es auch keine Blaupause. Merkel hat den Weg ertastet und nicht versucht, der Bevölkerung etwas vorzumachen. Zweifelhafte Maßnahmen wurden von den Gerichten korrigiert. Massive Finanzspritzen und das Kurzarbeitergeld haben den Kollaps der Wirtschaft und einen rapiden Anstieg der Arbeitslosigkeit verhindert. Das Gesundheitssystem ist nicht kollabiert.

Flüchtlingspolitik

Mit keinem anderen Satz hat Merkel für so viel öffentliche Empörung gesorgt wie mit „Wir schaffen das“. Mit der Entscheidung, Flüchtlinge aus dem arabischen Raum unkontrolliert nach Deutschland einreisen zu lassen, traf sie 2015 eine der wohl folgenreichsten Entscheidungen, die je ein Kanzler getroffen hat – und das ohne Absprache mit den EU-Partnern. Binnen eines Jahres kommen rund 1,2 Millionen Menschen nach Deutschland. Behörden sind überfordert, die Gesellschaft ist gespalten; neben die „Willkommenskultur“ tritt öffentliche Ablehnung. Zeitweise scheint es nicht ausgeschlossen, dass Merkel darüber stürzt. Erst nachdem die Länder auf der Balkanroute ihre Grenzen geschlossen haben und die EU mit der Türkei einen milliardenschweren „Flüchtlingsdeal“ geschlossen hat, beruhigt sich die Lage. Dennoch: Die Quittung bekommen CDU/CSU bei der Bundestagswahl 2017, in der sie auf 32,9 Prozent abstürzen. Die Union hat sich davon nie richtig herholt.

Digitalisierung

Als Merkel das Internet im Juni 2013 als „Neuland“ bezeichnete, erntete sie Hohn und Spott. Kein Wunder, dass es mit einer so ahnungslosen Kanzlerin bei der Digitalisierung nicht vorangehe, hieß es. Laut OECD lag etwa der Anteil von Glasfaseranschlüssen in Deutschland 2020 bei gerade mal 4,7 Prozent. Zum Vergleich: Länder wie Schweden, Litauen oder Spanien wiesen im selben Jahr einen Anteil zwischen 69,7 und 75,7 Prozent auf.

Infrastruktur

Deutschlands Infrastruktur hat ein hohes Niveau – noch. Denn das Land lebt von der Substanz. Seit Jahrzehnten wird zu wenig in die öffentliche Infrastruktur investiert, sagen Experten und gehen von zusätzlich 450 Milliarden Euro an nötigen Investitionen im laufenden Jahrzehnt aus. In einer Umfrage des Instituts der Deutschen Wirtschaft gaben 72 Prozent der deutschen Unternehmen an, ihre Geschäftsabläufe würden durch Infrastrukturmängel im Straßenverkehr beeinträchtigt. Entscheidende Impulse müssen also her.

Sozialpolitik

Laut Paritätischem Armutsbericht 2020 hat die Armutsquote mit 15,9 Prozent hierzulande einen historischen Wert erreicht; mehr als 13 Millionen Menschen sind betroffen. Im ersten Jahr von Merkels Kanzlerschaft lag die Quote noch bei 14,0 Prozent. Gleichzeitig ist die Zahl der Millionäre stetig gewachsen. „Volkswirtschaftliche Erfolge kommen seit Jahren nicht bei den Armen an. Das ist nicht mehr nur armutspolitische Ignoranz, sondern bereits bewusste Verweigerung der Bundesregierung“, kritisiert Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands. Infolge der Corona-Krise dürfte sich die Entwicklung verschärfen.

Atomausstieg

Auch wenn es erst mal gut klingt, keinen Atomstrom mehr zu produzieren – der überstürzte Ausstieg aus der Nuklearenergie ist aus Sicht der Verbraucher angesichts der hohen Stromkosten kein Meisterstück. Der Strompreis lag 2020 erneut über den Werten aller übrigen EU-Staaten. 45 Prozent des Stroms kamen aus erneuerbaren Energien – mit der Fokussierung auf diese Energiequellen aber wächst die Steuer- und Abgabenlast auf Strom; mit einem Anteil von über 50 Prozent gilt sie Kritikern heute als viel zu hoch, Verbraucher seien dringend zu entlasten. Zudem bezieht Deutschland immer noch Atomstrom aus Frankreich. Hätte der Ausstieg auch langsamer vollzogen werden können?

Wehrpflicht

Seit Sommer 2011 ist die Wehrpflicht in Deutschland ausgesetzt. Eine Abschaffung, sagte Kanzlerin Merkel damals, dürfe es allein deshalb nicht geben, weil niemand vorhersagen könne, wie sich die Sicherheitslage in den nächsten Jahrzehnten entwickle. Tatsächlich schlägt sich die Bundeswehr mit den Folgen herum. So hat sie immer wieder enorme Schwierigkeiten, genügend fähiges Personal zu finden. Und Kritiker bemängeln, dass die Bundeswehr als Berufsarmee keinen Querschnitt der Gesellschaft als „Bürger in Uniform“ mehr abbilde. Das könne rechtsextreme Umtriebe in der Armee befördern. Darüber hinaus kämpft die Bundeswehr mit zahlreichen Mängeln beim Material und in der Beschaffung.

Nord Stream 2

Die Nord Stream 2-Pipeline, die durch die Ostsee russisches Gas nach Deutschland liefern wird, gilt Kritikern als Paradebeispiel für handwerklich schlecht gemachte Außenpolitik. Das Projekt war weder mit den EU-Partnern noch mit den USA abgesprochen und belastete das transatlantische Verhältnis über Jahre schwer; zwischenzeitlich standen sogar Sanktionsandrohungen im Raum. Die Bundesregierung unter Merkel vertrat lange Zeit die Ansicht, der Bau sei ein rein ökonomisches Projekt und kein politisches – eine Fehleinschätzung.

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AfD-Aufstieg

Ist Angela Merkel mitverantwortlich für Gründung und Aufschwung der „Alternative für Deutschland“? Drei Dinge dürften dabei wohl eine maßgebliche Rolle gespielt haben: die umstrittene Finanzierung der Euro-Rettung, die polarisierende Flüchtlingspolitik sowie die Modernisierung der Christdemokraten, die manch konservatives Parteimitglied zum Austritt bewogen hat. Und es gibt Stimmen, die noch etwas anderes für den AfD-Aufstieg verantwortlich machen: die neoliberale und kapitalfreundliche Politik der Union; sie habe soziale Brüche gefördert, anstatt an deren Überwindung zu arbeiten.

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