Selenskyj geht gegen Antikorruptionsbehörden vor, die seien von Russland unterwandert. Schnell folgen Proteste.
Anti-Selenskyj-Protest in der Ukraine„Ein Geschenk historischen Ausmaßes an die russische Propaganda“

Eine Frau hält während des Protests gegen ein Gesetz, das die Unabhängigkeit von Organen zur Korruptionsbekämpfung beschränkt, ein Telefon mit der Aufschrift „Veto“.
Copyright: Alex Babenko/AP/dpa
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat ein Gesetz unterzeichnet, das die Unabhängigkeit zweier ukrainischer Antikorruptionsbehörden einschränkt. Mit dem Schritt werden das nationale Antikorruptionsbüro (NABU) und die Antikorruptions-Staatsanwaltschaft (SAPO) dem Generalstaatsanwalt unterstellt, der wiederum von Selenskyj ernannt wird. In der Ukraine kam es am Dienstagabend zu Protesten gegen das Gesetz. In mehreren Großstädten gingen Menschen auf die Straße – und forderten ein Veto des Präsidenten. Die EU kritisierte die Änderung als „Rückschritt“.
Korruption und die Zweckentfremdung von Geldern sind ein weitverbreitetes Problem in der Ukraine. Selenskyj hatte sich den Kampf gegen Korruption stets auf die Fahne geschrieben und in der Vergangenheit selbst dazu aufgefordert, Verdachtsfälle beim Antikorruptionsbüro zu melden. Nun gibt es viele Spekulationen bis hin zu Unterstellungen, was hinter der drastischen Gesetzänderung stecken könnte.
Scharfe Kritik an Kurs von Wolodymyr Selenskyj
Selenskyjs Kritiker werfen dem Präsidenten vor, bewusst die beiden Antikorruptionsbehörden schwächen zu wollen. Der ukrainische Präsident und der ukrainische Geheimdienst (SBU) sprechen derweil von einer russischen Unterwanderung der Behörden. Erst spät in der Nacht wandte sich Selenskyj an die Öffentlichkeit.
Alles zum Thema Europäische Union
- Rundschau-Debatte des Tages Kann die EU den chinesischen Drachen zähmen?
- Handelskonflikt Merz deutet mögliche Einigung im Zollstreit mit den USA an
- Handelsstreit mit den USA Zückt die EU nun die „Handels-Bazooka“?
- Maßnahmen gegen irreguläre Migration Österreich verzeichnet starken Rückgang von Asylanträgen
- Gipfel auf Zugspitze Minister drängen auf Abschiebungen und härtere Asylpolitik
- Schwarzmarkt-Boom befürchtet Rauchen könnte teurer werden – EU-Plan für Tabaksteuer
- Einigung in Brüssel EU verhängt neue Russland-Sanktionen – Lange Liste von Maßnahmen
„Die Infrastruktur zur Korruptionsbekämpfung wird funktionieren“, versicherte Selenskyj, nachdem sich SBU-Chef Vasyl Maliuk zuvor ähnlich geäußert hatte. „Allerdings muss sie ohne russischen Einfluss auskommen“, fügte Selenskyj an. Das Ziel sei „mehr Gerechtigkeit“, versicherte der Präsident. „Natürlich werden NABU und SAPO ihre Arbeit tun“, hieß es weiter.
Antikorruptionsbehörde: Regierung sieht russische Unterwanderung
„Seit Jahren leben Beamte, die aus der Ukraine geflohen sind, aus irgendeinem Grund im Ausland – in sehr schönen Ländern und ohne rechtliche Konsequenzen – und das ist nicht normal“, begründete Selenskyj den Schritt weiter. Es gebe keine rationale Erklärung dafür, warum „Strafverfahren in Milliardenhöhe“ nicht vorangekommen seien, führte Selenskyj aus. „Und es gibt keine Erklärung dafür, warum die Russen immer noch an die benötigten Informationen gelangen können.“
Es sei wichtig, den russischen Einfluss zu beenden, ebenso wichtig sei aber auch, dass „Strafen unvermeidlich sind und die Gesellschaft das auch erkennt“, fügte der Präsident an, der sich erstmals seit Kriegsbeginn öffentlichen Protesten ausgesetzt sieht. Ob diese Worte ausreichen, um die Lage in der Ukraine zu beruhigen, ist offen.
Abgeordnete stimmen mit großer Mehrheit für Gesetzesänderung
Trotz scharfer Kritik von Nichtregierungsorganisationen an den Plänen stimmte am Dienstag eine überwältigende Mehrheit der ukrainischen Abgeordneten für das Gesetz, das im Eilverfahren durch das Parlament gebracht wurde. „Heute wurde mit den Stimmen von 263 Abgeordneten die Infrastruktur zur Korruptionsbekämpfung zerstört“, sagte der Chef des nationalen Antikorruptionsbüros, Semjon Krywonos, vor Journalisten.
Laut der ukrainischen NGO Anti-Corruption Action Center macht das Gesetz die Antikorruptionsbehörden weitgehend bedeutungslos, da der Generalstaatsanwalt „die Ermittlungen gegen alle Freunde“ von Präsident Selenskyj einstellen werde.
Vitali Klitschko schließt sich Protesten in Kyjiw an
Der ehemalige ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba, der 2024 aus der Regierung ausgeschieden war, sprach von einem „schlechten Tag für die Ukraine“. Der Präsident habe nun die Wahl, „ob er sich auf die Seite des Volkes stellt oder nicht“, fügte Kuleba an. Kyjiws Bürgermeister, Vitali Klitschko, schloss sich unterdessen den Protesten an – wohl jedoch nicht ohne persönliches Motiv, der Ex-Boxer gilt bereits länger als Rivale des Präsidenten. Ihm werden Ambitionen auf das Präsidentenamt nachgesagt.
International sorgt das Vorgehen der ukrainischen Regierung ebenfalls für Aufsehen und auch Sorgen. EU-Erweiterungskommissarin Marta Kos sprach von einem „ernsthaften Rückschritt“ auf dem Weg der Ukraine zu einem EU-Beitritt. Rechtsstaatlichkeit und unabhängige Behörden im Kampf gegen die Korruption blieben „im Mittelpunkt der EU-Beitrittsverhandlungen“, betonte sie im Onlinedienst X.
EU warnt vor „ernsthaftem Rückschritt“ auf dem Weg zum Beitritt
Kurz vor der Abstimmung erklärte Kommissionssprecher Guillaume Mercier zudem, dass die europäischen Institutionen der Ukraine „erhebliche finanzielle Unterstützung“ gewährten, „die von Fortschritten in den Bereichen Transparenz, Justizreform und demokratische Regierungsführung“ abhänge.

Trotz geltenden Kriegsrechts demonstrieren Hunderte Ukrainer spontan gegen ein Gesetz, das die Unabhängigkeit von Organen zur Korruptionsbekämpfung beschränkt. Sie fordern von Präsident Selenskyj ein Veto.
Copyright: Andreas Stein/dpa
Tatsächlich haben die meisten EU-Länder jedoch keine unabhängigen Antikorruptionsbehörden, auch in Deutschland sind Korruptionsermittlungen der Staatsanwaltschaft unterstellt. Die Behörden waren in der Ukraine jedoch einst geschaffen worden, da die Korruption im Land deutlich größere Ausmaße erreicht als in anderen europäischen Staaten.
„Wir haben ein gemeinsames Problem, einen Feind“
„Wir haben ein gemeinsames Problem, einen Feind. Deshalb müssen interne Widersprüche durch einen offenen Dialog gelöst werden, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen – die Verteidigung unseres Landes“, mahnte auch der in der Ukraine populäre Chef des Militärgeheimdienstes (GRU), Kyrylo Budanow.
Lob gab es unterdessen für die ukrainische Zivilgesellschaft, die ihr Unverständnis über das Vorgehen der Regierung auch in Kriegszeiten mit Protesten zum Ausdruck brachte – und das auch ungehindert konnte. Auf Schildern und mit Sprechchören forderten Hunderte in Kyjiw ein Veto des Präsidenten gegen das Gesetz. „Das ist die innen- und außenpolitische Stärke der Ukraine und der große Unterschied zu Russland: Die Zivilgesellschaft, die trotz Krieg den Mächtigen auf die Finger schaut“, kommentierte der Osteuropa-Experte Thomas Dudek die Proteste.
„Das ist die innen- und außenpolitische Stärke der Ukraine“
Selenskyj wird derweil nun Instinktlosigkeit vorgeworfen. Mit dem Schritt gefährde der Präsident seine „Glaubwürdigkeit“ befand etwa Propaganda-Forscher Pekka Kallioniemi. Zudem liefere Selenskyj mit der Gesetzesänderung „reichlich Propagandamaterial“ für Russland, warnte Kallioniemi. Der Schritt sei ein „Geschenk historischen Ausmaßes an die russische Propaganda und an alle im Westen ist, die weitere Militärhilfe für den gerechten Krieg der Ukraine gegen die russische Invasion ablehnen“, befand auch Yaroslav Trofimov, Ukraine-Korrespondent des „Wall Street Journal“.
Aus dem Baltikum kamen ebenfalls Warnungen an Selenskyj: „Wenn es um Demokratie und die weitere Integration des Landes in die Europäische Union geht, darf sich die ukrainische Führung keinen Fehler erlauben“, mahnte Marko Mihkelson, Vorsitzender aus Auswärtigen Ausschusses des estnischen Parlaments.
„Ukrainische Führung darf sich keinen Fehler erlauben“
„Ich sehe das Gesetz über die Antikorruptionsbehörden heute kritisch – ich halte es für einen Fehler, der schnell korrigiert werden sollte“, schrieb derweil der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter bei X. „Meine Befürchtung ist, dass dies die Verbreitung russischer Narrative befeuert und das Misstrauen gegenüber der ukrainischen Regierung schürt“, fügte Kiesewetter an. Russland bekomme damit einen Vorteil auf dem „kognitiven Schlachtfeld“, für prorussische Kräfte sei die Lage in Kyjiw „eine Augenweide“, warnte der CDU-Politiker. Die Ukraine dürfe bei Reformen und Korruptionsbekämpfung keine Rückschritte machen.
Tatsächlich werden die Auswirkungen sofort sichtbar: Russische Propagandamedien griffen die Bilder von den Demonstrationen in der Ukraine auf – und stürzten sich auf westliche Kritik an Selenskyj. Proteste wie derzeit in Kyjiw wären in Moskau unterdessen nicht möglich, derartige Demonstrationen wurden in Russland zuletzt immer von Sicherheitskräften unterbunden.
Trump-Anhängerin nutzt Proteste prompt für Propaganda-Lüge
Auch in den USA werden die Proteste unterdessen zum Anlass genommen, auf einen anti-ukrainischen Kurs einzuschwenken – genau, wie die Kritiker gewarnt hatten. So nutzte die republikanische Abgeordnete Marjorie Taylor Greene, die immer wieder ein Ende der US-Unterstützung für die Ukraine fordert, die Bilder aus Kyjiw prompt für eine Propaganda-Lüge.
„In Kiew kommt es zu riesigen Protesten gegen den ukrainischen Präsidenten Selenskyj, da dieser ein Diktator sei und sich weigere, einen Friedensvertrag abzuschließen und den Krieg zu beenden“, behauptete die glühende Trump-Anhängerin wahrheitswidrig. Das sei „gut für das ukrainische Volk“, das Selenskyj aus dem Amt werfen sollte, fügte Taylor Greene an, die für die Verbreitung von Unwahrheiten bekannt ist. Dann folgte prompt eine Forderung, die in Moskau für Freude sorgen dürfte: „Amerika muss aufhören, Waffen zu finanzieren und zu liefern“, schrieb Taylor Greene. (mit afp)