- Der Unionsfraktionschef aus dem Corona-Hotspot-Wahlkreis Gütersloh räumt Versagen der Politik bei den Vorgaben für die Fleischindustrie ein.
- Das Instrument der Werkverträge sei „pervertiert“ worden.
- Er spricht von Arbeitsverhältnissen, die es Deutschland nicht geben dürfte.
Berlin – Endlich einmal wieder ein Interview von Angesicht zu Angesicht – wenn auch mit Zwei-Meter-Abstand. Ralph Brinkhaus kam sichtlich betroffen zu unserem Interview-Termin. Wir hatten lange ein Gespräch über die deutsche EU-Ratspräsident verabredet, aber der Corona-Ausbruch beim Schlachtbetrieb Tönnies in dem Wahlkreis des CDU-Politikers wurde im Anschluss zum zweiten Schwerpunkt.
Herr Brinkhaus, Deutschland übernimmt am Mittwoch die EU-Ratspräsidentschaft. Wegen der Corona-Krise soll bald ein schuldenfinanzierter EU-Wiederaufbauplan von 750 Milliarden Euro beschlossen werden – 500 als Zuschüsse, 250 als Kredite – vor allem für die am stärksten gebeutelten Regionen. Ist das die indirekte Vergemeinschaftung von Schulden, die die Union nie wollte?
Brinkhaus Deutschland hat als stärkstes Land in Europa mehr als andere die Verantwortung, alles zusammenzuhalten. Die Corona-Krise ist eine der schwersten Krisen in der Geschichte der Europäischen Union. Die jetzige Solidarität ist nötig. Schon das Signal der Kanzlerin und des französischen Präsidenten zu dem Wiederaufbaufonds hat Entspannung gebracht.
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Daraus darf nur kein dauerhafter Transfermechanismus werden. Deswegen müssen wir schnell mit der Rückzahlung beginnen und dürfen uns nicht darauf einlassen, mit der Schuldentilgung erst in der nächsten EU-Haushaltsperiode ab 2028 zu beginnen.
Wird die Kanzlerin zum Ende Ihrer Amtszeit altersmilde? Bisher war ein solcher Finanzkurs mit ihr nicht denkbar – mit Ihrer Unionsfraktion im Bundestag übrigens auch nicht.
Brinkhaus Die Union hat einen Vorteil: Wir haben Prinzipien, aber wir sind nicht dogmatisch. Wissen Sie, schon vor der Corona-Krise war Deutschland in der EU finanziell sehr dominant. Jetzt kommen wir – so wie es aussieht- auch wieder besser als andere durch die Krise. Weil wir finanziell solide waren, haben wir richtig Geld, um die Wirtschaft zu stützen. Doch damit entfernen wir uns noch weiter von anderen Mitgliedsländern. Das ist nicht gut. Und es gilt auch, wenn die Konjunktur in Europa nicht anspringt, bekommen wir als Exportnation ein richtiges Problem. Das hat uns geleitet.
Wie kann es zu einer Lösung mit den „sparsamen Vier“ – Österreich, Schweden, Niederlande, Dänemark - kommen, die den Fonds ablehnen?
Brinkhaus Ihre Vorbehalte sind wichtig, denn sie sorgen für Balance in der EU, in der es eben auch die Seite gibt, die eine hohe Schuldenaufnahme fordert. Der Kompromiss ist, dass es einen klaren Tilgungsplan und dass es im Recovery-Plan Geld für Zukunftsprojekte gibt. Das Geld wird so eben nicht für kurzfristigen Konsum ausgegeben.
Sie sind 52 Jahre alt, wenn Sie 90 sind, sollen die Schulden für den Fonds zurückgezahlt sein – 2058. Was bedeutet das für die heutige Jugend, die erst einmal 40 Jahre Schuldentilgung vor sich hat und dann selbst in Rente geht?
Brinkhaus Ich weiß nicht, ob ich 90 Jahre alt werde und ich will den Schuldenabbau noch erleben. Dabei geht es nicht um mich – sondern das ist eine Frage der Generationengerechtigkeit. Deshalb müssen wir uns beeilen und frühzeitig mit der Rückzahlung beginnen.
Sie wollen, dass Deutschland diese zweite EU-Ratspräsidentschaft unter Merkel für „eine Renaissance der europäischen Idee" nutzt. Was ist in Vergessenheit geraten?
Brinkhaus Wir sollten weniger über Geld und Institutionen reden und mehr über drei andere entscheidende Säulen: Europa wurde gegründet als größtes Friedensprojekt, als Motor für Wohlstand und nun kommt etwas Drittes hinzu: Souveränität. Und Souveränität ist mittlerweile fast eine Überlebensfrage, um als Land selbstbestimmt zu bleiben. Wer nationale Souveränität erhalten will, der schafft das nur europäisch. Der Druck aus Russland, China und den USA ist sonst zu groß.
Ist die Corona-Krise mehr Glück oder Pech für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft?
Brinkhaus Sehr viele sind gerade sehr froh, dass Angela Merkel als die erfahrenste Regierungschefin die Präsidentschaft hat und dann noch mit einem Land im Rücken, das zu Europa steht wie kaum ein anderes. Das ist ein großes Glück.
Bleibt in dieser Krise für den Klimaschutz genügend Geld übrig?
Brinkhaus In Deutschland schieben wir alleine im Konjunkturpaket Investitionen in den Klimaschutz mit mehr als 20 Milliarden Euro an. Die Krise ist kein Grund beim Klimaschutz nachzulassen.
Hohe Kaufprämien gibt es für E-Autos, die so teuer sind, dass viele sie sich niemals leisten können.
Brinkhaus Das können sich im ersten Schritt nicht alle leisten, das stimmt. Wir müssen aber diese E-Autos jetzt in den Markt drücken - je mehr davon verkauft werden, desto günstiger werden sie. Das war bei vielen technologischen Innovationen so – denken Sie nur an den Farbfernseher oder den Computer.
Firmen stöhnen über die Mehrwertsteuersenkung, weil das ein Wust an Bürokratie mit sich bringe. Es sei denn, es bleibt bei den 16 und 5 Prozent. Ist das denkbar?
Brinkhaus Nein. Das soll ein Impuls für die Konjunktur sein, durch den Käufe vorgezogen werden. Das verpufft, wenn wir es ewig weiterlaufen lassen. Ab 2021 kommen andere Impulse: Zum Beispiel mehr Kindergeld und höherer Kinderfreibetrag, weniger Solidaritätszuschlag, Abbau der kalten Progression.
EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit zeigt sich entsetzt über die Arbeitsbedingungen für Osteuropäer in deutschen Schlachtbetrieben, womit wir in Ihrem Wahlkreis Gütersloh sind. Ist der Corona-Ausbruch beim Schlachtbetrieb Tönnies in Rheda-Wiedenbrück nicht schrecklich peinlich für Deutschland?
Brinkhaus Ja, da gibt es nichts zu beschönigen, das ist beschämend. Wir haben ein riesiges Problem. Wir haben uns in der Vergangenheit beim Thema Migration auf Flüchtlinge konzentriert und ausgeblendet, dass wir eine innereuropäische Arbeitsmigration haben, die auch bewältigt werden muss. Im Kreis Gütersloh leben 8000 bis 9000 Rumänen und Bulgaren. Es gibt Arbeitsverhältnisse, die wir in Deutschland nicht haben dürften. Nicht nur in der Fleischindustrie.
Warum war die Politik bisher nicht in der Lage, die Missstände abzuschaffen?
Brinkhaus Wir haben vieles geändert: Mindestlöhne gesetzt, Entsendegesetz angepasst, die Fleischindustrie hat sich eine Selbstverpflichtung gegeben, und wir haben, auch weil diese Verpflichtung nicht umgesetzt wurde, bereits 2017 ein Gesetz zum Schutz der Arbeitnehmerrechte in der Fleischindustrie beschlossen. Auf lokaler Ebene wurden Runde Tische eingesetzt, Wohnungen inspiziert, Beratungsstellen eröffnet. Aber es war nicht genug. Das in vielen Bereichen nützliche und unverzichtbare Instrument der Werkverträge ist in dieser Branche pervertiert worden, weil erhebliche Teile der Haupttätigkeiten des Unternehmens nicht durch eigene Mitarbeiter erbracht werden. Wir müssen jetzt insgesamt in Deutschland diese Strukturen überprüfen, nicht nur in der Fleischindustrie. Die Bundesregierung hat zur Situation in der Fleischindustrie am 20. Mai 2020 ein Arbeitsschutzprogramm für die Fleischwirtschaft beschlossen, das ich damals unterstützt habe und heute umso mehr unterstütze.
NRW-Arbeits- und Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann hat darauf verwiesen, wie viele Telefonnummern Clemens Tönnies habe. Ist der Unternehmer zu mächtig?
Brinkhaus Das glaube ich nicht. Die Sache ist die, wenn Sie einen Missstand erkennen, müssen Sie sehr, sehr dicke Bretter bohren, um Abhilfe zu schaffen. Insbesondere dann, wenn eine Branche nur wenig bis gar nicht kooperiert und einsichtig ist. Wir hätten besser und tiefer bohren müssen. Wenn die Menschen hier in Deutschland sind, müssen wir uns als Politiker um sie kümmern. Wir sind für den Schutz der Arbeitnehmer in unserem Land mitverantwortlich. Egal, aus welchem Land sie kommen. Wir konnten nicht verhindern, dass sich etwa 1400 von ihnen mit Corona infiziert haben. Und das ist schlimm. Wir müssen uns jetzt um diese kranken Menschen kümmern. Wir müssen jetzt aber auch zwei Dinge machen: Erstens: Wir müssen lückenlos und transparent prüfen, ob und wer in den Unternehmen gegen Gesetze und Vorschriften verstoßen hat und die Verantwortlichen haftbar machen. Und zweitens müssen wir uns als Politik sehr selbstkritisch fragen, welche Fehler wir selbst gemacht haben.
Hat die Landesregierung von Ministerpräsident Armin Laschet schnell und konsequent gehandelt?
Brinkhaus Er hat Verantwortung übernommen, was gut und richtig ist. Eine solche Sache ist zu groß für einen Landkreis, einen Landrat und einen lokalen Krisenstab.
Hat der Verbraucher nicht auch einen Hebel, dessen Hunger nach billigem Fleisch die Preise bestimmt?
Brinkhaus Ich möchte nicht mit Schuldzuweisungen arbeiten. Aber der Druck, der Preiskampf, den wir im Einzelhandel haben, tut der gesamten Wertschöpfungskette nicht gut. Es geht nicht, dass wir mit dem Produkt Fleisch, für das im Übrigen immer ein Tier gestorben ist, Lockvogel-Angebote zum Einkaufen machen.
Wir ersparen Ihnen die Frage, wer eher Chancen auf die Kanzlerkandidatur hat – Laschet oder Söder. Wir fragen Sie nur, ob Sie vielleicht für den Parteivorsitz kandidieren und damit Zugriff auf die Kanzlerkandidatur haben wollten?
Brinkhaus Ich kümmere mich jetzt insbesondere um meinen Wahlkreis.
Das Gespräch führten Kristina Dunz und Eva Quadbeck