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Verwackeltes FeindbildSpahn und Reichinnek sorgen mit Zusammenarbeit für Spott und Spekulationen

Lesezeit 5 Minuten
dpatopbilder - 06.05.2025, Berlin: Sören Pellmann (l-r), Co-Vorsitzender der Fraktion Die Linke im Bundestag, Jens Spahn (CDU), Vorsitzender der CDU/CSU Bundestagsfraktion, Heidi Reichinnek, Fraktionsvorsitzende von Die Linke, und Alexander Dobrindt (CSU), designierter Bundesinnenminister, beraten sich nach der Kanzlerwahl im Bundestag. Der designierte Bundeskanzler Merz ist bei der Kanzlerwahl im Bundestag im ersten Wahlgang durchgefallen. Foto: Kay Nietfeld/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Kanzlerwahl mit Pannen: Sören Pellmann (v.l.n.r.), Jens Spahn, Heidi Reichinnek und Alexander Dobrindt beraten sich am Dienstag (6. Mai) im Bundestag.

Zur Wahl von Friedrich Merz noch am Dienstag waren Union und SPD auf Hilfe angewiesen – auch von den Linken.

Der Dienstag war in jeder Hinsicht ein politisch außergewöhnlicher Tag: Friedrich Merz benötigte als erster Bundeskanzler der Geschichte zwei Anläufe, um sich von den Abgeordneten des Bundestags ins Amt wählen zu lassen. Über Stunden war unklar, wie es nach dem gescheiterten ersten Wahlgang weitergehen würde und wann Merz gewählt werden würde. Zwischenzeitlich schienen sich sogar erfahrene Beobachter nicht mehr sicher zu sein, ob der CDU-Politiker überhaupt noch eine Chance hatte, Nachfolger von Olaf Scholz (SPD) zu werden. Zu viele Mitglieder der Unions- und/oder SPD-Fraktion lehnten die Personalie offenbar ab.

Klar war jedoch, dass die Koalition einen zweiten Wahlgang anstreben und Merz sich erneut dem Votum der Abgeordneten stellen würde. Nach internen Beratungen schien für Partei- und Fraktionsspitzen klar, dass es den Abweichlern offenbar lediglich um einen „Denkzettel“ gegangen war. Es war jedoch unklar, wann dieser zweite Wahlgang stattfinden konnte. Um die vorgeschriebenen Fristen einhalten zu können, wäre das nicht am Dienstag möglich gewesen. Dies war aber der ausdrückliche Wunsch der Union.

Kanzlerwahl: Union und SPD suchen Zweidrittelmehrheit im Bundestag

Dafür musste zunächst eine Zweidrittelmehrheit des Bundestages für eine Fristverkürzung stimmen. Grüne signalisierten ihre Bereitschaft dazu, allerdings reichten deren Stimmen nicht für die erforderliche Mehrheit. Auch die Linke erklärte sich bereit dazu. Der Abstimmung, die dann im wieder zusammengetretenen Plenum ab 15.15 Uhr stattfand, waren intensive Gespräche zwischen den Fraktionen vorausgegangen.

Klar war, dass die Union auch mit den Linken, die sie eigentlich ablehnt, verhandeln musste. Eine Schwierigkeit schien jedoch darin zu bestehen, dass kaum jemand in der Union Kontakte zu Politikerinnen und Politikern der Linken hat. Zumindest war dies das Bild, das zwischenzeitlich in den sozialen Medien kolportiert wurde. „Table Media“-Journalist Michael Bröcker schrieb bei X, der CSU-Politiker und neue Innenminister Alexander Dobrindt habe als einziger führender Unionspolitiker eine private Nummer des Spitzenpersonals der Linken und würde nun mit Co-Parteichefin Janine Wissler über die geplante Fristverkürzung verhandeln.

Später am Abend im ZDF-Talk von Markus Lanz bestätigte CDU-Generalsekretär Linnemann, dass zumindest er keine einzige private Nummer von einem Vertreter der Linkspartei haben. „Wir haben diesen Unvereinbarkeitsbeschluss, der steht, und da stehe ich auch zu“, rechtfertigte Linnemann die fehlenden Kontakte. Er vertrat die These, dass es noch immer linksextremistische Strömungen innerhalb der Partei gebe.

Kritik an Unvereinbarkeitsbeschluss der CDU

Seit 2018 gibt es bei der CDU einen Parteitagsbeschluss, der jegliche Kooperation mit der Linken ausschließt. „Die CDU Deutschlands lehnt Koalitionen und ähnliche Formen der Zusammenarbeit sowohl mit der Linkspartei als auch mit der Alternative für Deutschland ab“, heißt es da. Immer wieder war die CDU in den vergangenen Jahren dafür kritisiert worden, dass sie damit beide Parteien quasi über einen Kamm schere. Die „Hufeisentheorie“ besagt, dass AfD und Linke zum extremen politischen Spektrum gehören und sich in gewisser Weise sogar ähnlich seien. Viele Politikwissenschaftler halten diese Theorie jedoch für überholt, da sie sehr eindimensional sei.

So sei die Linke keineswegs mit den Verfassungsfeinden der AfD gleichzusetzen und habe beispielsweise in Thüringen, wo sie jahrelang mit Bodo Ramelow den Regierungschef stellte, pragmatisch und unideologisch regiert. Mit der jüngsten Einstufung des Verfassungsschutzes der gesamten AfD als gesichert rechtsextremistisch dürfte die Gleichsetzung dieser Partei mit der Linken auf noch wackligeren Füßen stehen.

Spott über Spahns Gespräch mit Reichinnek

Dass die Union nun bei der Kanzlerwahl, also quasi in höchster Not, auf die Linken angewiesen war und sich später CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann ausdrücklich bedankte, wurde im Nachgang des dramatischen Tages vielfach diskutiert.

Ein Bild von Unionsfraktionschef Jens Spahn und der kommissarischen Linken-Fraktionschefin Heidi Reichinnek wurde vielfach geteilt, oft mit einem leicht spöttischen Unterton. Beide unterhalten sich auf dem nicht ganz scharfen Foto angeregt. Ausgerechnet Jens Spahn, der zuletzt zu einem „normalem Umgang“ mit den Abgeordneten der AfD aufgerufen hatte, war nun auf das Entgegenkommen von Reichinnek angewiesen, die dem linken Flügel ihrer Partei zuzurechnen ist, den Kapitalismus abschaffen will und Reiche als Bedrohung der Demokratie sieht.

„Schon die Vorstellung, dass Spahn Heidi Reichinnek persönlich um Hilfe bitten müsste, wäre vor 48 Stunden als verrückt angesehen worden“, schreibt der Politologe Alexander Clarkson vom King’s College in London.

Die SPD-Europapolitikerin und frühere Justizministerin Katarina Barley sagte am Dienstagabend bei Markus Lanz: „Mein Moment des Tages: Jens Spahn verhandelt mit Heidi Reichinnek.“ Für sie sei es einer der „wenigen positiven Vorfälle“ gewesen, dass die Union von ihrem Pferd runtergestiegen ist“. Barley meinte damit das Aufgeben des Unvereinbarkeitsbeschlusses. Dieser sei einfach absurd – vor allem vor dem Hintergrund, dass die CDU in Thüringen in einer Koalition mit dem wesentlich radikaleren BSW zusammenarbeite.

Linnemann wies Spekulationen über künftige Kooperationen mit der Linken allerdings zurück und verteidigte den Unvereinbarkeitsbeschluss bei Lanz so: Dieser gelte grundsätzlich weiter, aber nicht unbedingt bei Verfahrensfragen, wie sie am Dienstag bei der Kanzlerwahl akut geworden seien.

Auch Jens Spahn betonte am Mittwoch trotz seiner Gespräche mit den Linken, dass der Unvereinbarkeitsbeschluss weiter gelte. Die schwarz-rote Koalition verfüge über eine eigene Mehrheit, „mit der wir stabil und verlässlich regieren werden“, betonte der Fraktionschef – allerdings entgegen den ersten Erfahrungen vom Dienstag. Kanzleramtsminister Thorsten Frei sagte dagegen, die CDU sollte sich angesichts der „aktuellen Mehrheitsverhältnisse“ im Bundestag noch einmal mit dem Beschluss von 2018 befassen.