Corona-StrategieEin Plädoyer für einen Ausstieg aus dem Lockdown

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Stühle verriegelt

Lockdown und kein Ende: Stühle sind hinter dem geschlossenen Gitter eines Restaurants gestapelt. 

  • Lockdown und kein Ende? Die Inzidenzzahlen stagnieren, die Politik dämpft angesichts der Mutationen die Hoffnung auf Lockerungen.
  • Dabei gäbe es eine Woche vor dem nächsten Bund-Länder-Gipfel Anlass, dem Virus optimistischer zu begegnen.

Berlin – Mit Warnungen vor der dritten Corona-Welle wollen Karl Lauterbach, Christian Drosten und Co. die Rufe nach Lockerungen im Keim ersticken. Dabei gibt es viele Argumente, die für einen verantwortbaren Lockdown-Ausstieg sprechen. Ein Plädoyer.

Die Ausgangslage

Erst ab einer stabilen bundesweiten Inzidenz von 35 Neuinfektionen pro 100000 Einwohner sollen nach Schulen und Friseuren weitere Bereiche öffnen. Auf den Kurs hatte Kanzlerin Angela Merkel die Ministerpräsidenten beim letzten Corona-Gipfel eingeschworen. Zwar lässt die Regierungschefin nun „Pakete einer Öffnungsstrategie“ schnüren. Aber konkrete Perspektiven? Fehlanzeige.

Ihr Kanzleramtschef Helge Braun warnt jedenfalls weiter, die Mutanten „zerstören leider gerade die gute Entwicklung in Deutschland“. Also ist das 35er-Ziel außer Reichweite gerückt. Auch für das seelische Leiden unzähliger Kinder und Erwachsener, den Einbruch der Wirtschaft, die Überforderung der Familien wäre damit keine Linderung absehbar. Es heißt also abwägen: Entweder „Lockdown forever“ mit täglich gravierenderen Kollateralschäden. Oder mehr Mut und Kreativität, um auch mit den Mutanten klarzukommen und die Risiken anders zu gewichten. Und dafür spricht vieles.

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Impfungen

In Deutschland sind – Stand Montag – Stand Montag waren 3,41 Millionen Menschen mindestens ein Mal geimpft, von diesen haben 1,81 Millionen Menschen auch schon ihre Zweitimpfung erhalten. Mehr als eine halbe Million Pflegeheimbewohner und zusätzlich rund 640.000 Hochbetagte haben schon ihre zweite Impfdosis bekommen, 1,5 Millionen Pflegekräfte und Ärzte wurden immunisiert. Das ist ein ganz wichtiger Schritt, um die Überlastung des Gesundheitswesens durch den Ausfall von infiziertem Personal auszuschließen. Und die vorläufigen Zahlen aus Israel zeigen: Wer geimpft ist, ist wohl nur in Ausnahmefällen überhaupt noch ansteckend.

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Ein neues Problem ist die breite Ablehnung des Astrazeneca-Vakzins – insbesondere durch Pflegekräfte. Anstatt diese zu beschimpfen, könnte man sie auch motivieren, etwa durch die Aussicht, ab einer bestimmten Impfquote würden Beschränkungen für Immune zurückgenommen.

Eine Belohnung fürs Impfen wäre vermutlich wohl weit wirksamer, um die Impf-Skeptiker doch für den rettenden Piks zu gewinnen. Aber das wird gar nicht erst versucht. Stattdessen sollen Lehrer und Erzieher vorgezogen werden, obwohl sie weder zur Risikogruppe gehören noch mit Risikogruppen zu tun haben, wie die Ständige Impfkommission auch scharf kritisiert.

Die Lage in den Krankenhäusern

Gerald Gaß ist kein Leichtfuß. Der langjährige Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft warnte im Frühjahr 2020 eindringlich vor einer Überlastung der Kliniken. Sein heutiger Befund: „Wir sind von dieser Maximalbelastung (durch Corona-Patienten) weg.“ Es seien durchaus Inzidenzen von 50 oder 70 akzeptabel, findet der Experte, um die Öffnung von Kulturveranstaltungen oder Restaurants anzugehen, „ohne dass die Kliniken überlastet sein werden“.

Die Belegungskurve im DIVI-Intensivregister geht seit dem Peak Anfang Januar kontinuierlich nach unten, hat sich von 5745 binnen sechs Wochen auf 3057 (am Sonntag) halbiert. Das heißt: Auch wenn bei steigenden Inzidenzen wieder mehr Corona-Patienten intensiv behandelt werden müssten, wäre der Puffer dick. Bahnt sich eine neue Notlage an, könnte reagiert werden.

Sonne und Wärme

Bislang zeigten alle Corona-Viren saisonale Effekte ähnlich der Grippe: Wird es kalt und nass, schießen die Kurven hoch, wird es warm, sonnig und trocken, flacht sie ab. Gilt das für die Mutanten nicht, wie etwa Charité-Virologe Drosten befürchtet? Der Virologe Klaus Stöhr sieht das ganz anders, er beobachtet: „Der Abwärtstrend der Winterwelle in Europa ist ungebrochen. Die Infektionsdruck wird in den nächsten Wochen weiter abnehmen.“ Sein Bonner Kollege Hendrick Streeck sagte im Interview mit unserer Redaktion: „Auch bei Corona werden wir im Sommer vermutlich wieder niedrigere Fallzahlen erleben. Es ist bisher nicht davon auszugehen, dass die Mutationen daran groß etwas ändern.“

Dass sich die Lage trotz Mutanten ab Mitte März entspannt, scheint also keinesfalls ausgeschlossen. Dass die Politik ihre Maßnahmen am Horrorszenario ausrichtet, wäre angesichts der Horror-Kollateralschäden womöglich fataler als die Ausrichtung an einem optimistischeren Szenario.

Die Pauschal-Inzidenz

Beim Sehnsuchts-Wert von 35 wird nicht differenziert, ob Kinder (de facto kaum von Corona betroffen), Menschen im mittleren Alter oder Hochbetagte (Hochrisikogruppe) angesteckt sind. So geht es nicht weiter, fordern Berlins Amtsärzte. Sie schlagen eine nach Alterskohorten ausgerichtete Inzidenzanalyse als „Frühwarnsystem“ vor. Soll heißen: Die Politik soll sich nicht pauschal an der Ansteckungszahl orientieren, sondern Gegenmaßnahmen auf die Abwehr konkreter Gesundheitsrisiken zuschneiden. Auch das geschieht bislang nicht. Praktisch wäre ein altersspezifischer Inzidenzwerte kein Problem, bei den Meldungen an das RKI kann das Alter der Infizierten angegeben werden.

Schnelltests

Auch Schnell- und Selbsttests (letztere stehen kurz vor der Zulassung) wären ein Instrument für verantwortbare Lockerungen. Die derzeitigen Pläne für ihren Einsatz hätten aber das Gegenteil zur Folge. Denn wenn sich die Menschen massenweise testen lassen, werden mehr Positive entdeckt, die keine Symptome zeigen. Das würde auf höhere Neuansteckungszahlen hinauslaufen – und auf eine Verlängerung des Lockdowns. Dabei entschärfen Tests das Risiko, indem unentdeckte Fälle gefunden, quarantiert und ihre Kontakte nachverfolgt werden können.

Verbissen wird seit Tagen gestritten, wie teuer die Selbsttests werden dürfen: ein Euro, zwei Euro, oder acht? Aber wer würde sie nutzen, wenn er vom Negativ-Ergebnis nichts hat und beim Positiv-Ergebnis in Quarantäne muss? Dabei hätte die breite Anwendung das Potenzial, viele Bereiche mit hohem Infektionsschutz zu öffnen und zugleich die Pandemielage weit besser einschätzen zu können. Auch hier bräuchte es konkrete Pläne, das Instrument gewinnbringend für alle zu nutzen, sonst werden die Schnell- und Selbsttests zum Rohrkrepierer.

Korrektur: In einer früheren Version hieß es, es seien schon mehr als fünf Millionen Menschen mindestens ein Mal geimpft. Das ist nicht korrekt, da die Zahlen der Erstgeimpften und Zweitgeimpften irrtümlicherweise addiert wurden. Richtig ist: Stand Montag waren 3,41 Millionen Menschen mindestens ein Mal geimpft, von diesen haben 1,81 Millionen Menschen auch schon ihre Zweitimpfung erhalten. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen."

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