700 Fotos dokumentieren MissbrauchFall Dillinger: Erzbistum Köln steht im Kontakt mit Trier

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Menschen gehen über den Domfreihof vor dem Dom.

Der Trierer Dom: Ein neuer schwerer Skandal um sexuellen Missbrauch erschüttert das älteste deutsche Bistum – und wirft auch für das Nachbarbistum Köln fragen auf.

Nach dem Tode eines bundesweit bekannten Geistlichen aus dem Bistum Trier fanden sich 700 Fotos mit Hinweisen auf über Jahrzehnte hinweg begangene Missbrauchsdelikte. Und auf ein Doppelleben in Afrika. Neun Jahre lang war Edmund Dillinger auch im Erzbistum Köln eingesetzt.

„Geschlechtsverkehr minus Ehe gleich Unzucht“, das hielt der Schul- und Studentenseelsorger Edmund Dillinger jungen Leuten vor. Noch 2019 schleuderte einer seiner Weggefährten aus dem konservativen „Forum Deutscher Katholiken“ diese Formel dem Limburger Bischof Georg Bätzing entgegen, der per Hirtenbrief „Anfragen an die katholische Sexualmoral“ so stellen wagte.

Vier Jahre später ist das Entsetzen groß und allgemein. Am 27. November 2022 war der vermeintlich so sittenstrenge Dillinger mit 87 Jahren im saarländischen Friedrichsthal verstorben. Jetzt steht sein Name im Mittelpunkt eines Missbrauchsskandals, der neben seinem Heimatbistum Trier auch das Erzbistum Köln beschäftigt – wenngleich dort bisher keine Hinweise auf sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch den Pfarrer bekannt sind.

„Wie er sich immer mehr getraut hat“

Zum Ablauf: Beim Ausräumen von Dillingers Haus nach seinem Tod fand sein Neffe rund 700 Fotos, mit dem der Geistliche offensichtlich eine Serie von Missbrauchstaten dokumentiert hat – beginnend in den 1960ern, endend in den 2000er Jahren. Sie zeigen männliche Personen, darunter eindeutig Minderjährige, oft nackt, zum Teil in hart pornografischer Darstellung. „Man sieht, wie er sich immer mehr getraut hat. Wie er immer weiter enthemmt abgerutscht ist – er hatte offenbar nichts zu befürchten“, sagte der Neffe der „Rhein-Zeitung“. Demnach entstanden die Fotos bei Wallfahrten, bei kirchlichen Freizeiten und unter Pfadfindern, später im schulischen Umfeld.

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Von 1970 bis 1979 hatte sich Dillinger, zuvor Religionslehrer im Saarland, im Erzbistum Köln aufgehalten. Zunächst zu Studienzwecken seit Ende 1970, dann als Folge einer Sanktion im Heimatbistum. Denn schon 1971 hatte es einen ersten einschlägigen Foto-Fund gegeben. Bei einer Rom-Wallfahrt entwendete ein Mitbruder einen Film aus Dillingers Kamera – mit Aufnahmen eines offenbar betrunkenen Jugendlichen in Badehose auf einem Bett.

Reaktion des damaligen Trierer Bischofs Bernhard Stein: Dillinger sollte nun im Erzbistum Köln arbeiten. Ein Gestellungsvertrag zwischen beiden Bistümern wurde geschlossen, aber es gibt keinen Beleg dafür, dass die Trierer die Kölner auch über die Vorgeschichte informiert hätten: „Eine Versetzung und Hinweise auf pädophile Neigungen werden in den vorhandenen Akten nicht erwähnt.“ 1973 erhielt Dillinger eine Stelle als Religionslehrer an der erzbischöflichen Marienschule in Opladen (heute Leverkusen), damals ein Mädchengymnasium. Im November 1974 wurde er Dozent am Religionspädagogischen Institut des Erzbistums. 1979 durfte er an die Saar zurück und arbeitete wieder als Religionslehrer, nun in Saarlouis.

Die damals in Köln Verantwortlichen – Erzbischof Joseph Kardinal Höffner und sein Generalvikar Peter Nettekoven – leben nicht mehr. Die Schule verweist aufs Erzbistum, das bisher keine Hinweise darauf sieht, dass in seinem Zuständigkeitsbereich jemand zu Schaden gekommen wäre. „Hinsichtlich möglicher Hinweise auf sexuelle Übergriffe, die in die Einsatzzeit von Pfr. Dillinger im Erzbistum Köln fallen könnten, befindet sich das Erzbistum Köln im Austausch mit dem Bistum Trier“, erklärt die Diözese. „Sollte es entsprechende Hinweise geben, werden diese sorgfältig geprüft.“

Ehrendomherr in Kamerun

Die Kölner Zeit war noch in anderer Hinsicht wichtig. Ebenfalls seit 1970 (bis 1982) war Dillinger Verbandsseelsorger einer großen katholischen Akademikerorganisation, des Cartellverbandes der katholischen deutschen Studentenverbindungen (CV). Am 6. Januar 1972 gründete er dann in Köln mit weiteren Interessierten die dem Verband nahestehende „CV-Afrika-Hilfe“, Protektor (Schirmherr): Ruhrbischof Franz Hengsbach. Das Hilfswerk, auch das gehört zur Geschichte, kann eine für eine kleine private Organisation durchaus beachtliche Bilanz vorweisen: Hilfe bei Schulbauten, Berufsbildung, Gesundheitsversorgung, landwirtschaftlichen Projekten.

Dillinger erhielt für sein Engagement das Bundesverdienstkreuz am Bande und wurde Ehrendomherr in Mbalmayo (Kamerun). Aber es gibt eine ganz andere Seite: Auch von seinen Reisen nach Kamerun, Ghana, Togo und Burkina Faso (das frühere Obervolta) existieren Fotos, die ihn meist mit jungen Männern, aber auch mit – zum Teil barbusigen – jungen Frauen zeigen. Das Bistum Trier sieht „Hinweise auf ein Doppelleben in Afrika von Dillinger unter falschen Namen“. Das Hilfswerk, heute geführt vom Ex-Linkenpolitiker Phelan Andreas Neumann, hat Dillinger posthum Mitgliedschaft und Ehrenvorsitz entzogen und bei seinen früheren Projektpartnern nach Auffälligkeiten gefragt. Spätestens seit den 1990er Jahren sei kein Afrika-Aufenthalt Dillingers in Vereinsangelegenheiten mehr bekannt. Auch der CV hat sich distanziert.

Der Fall Dillinger habe „Ausmaße, die den heute Verantwortlichen im Bistum bislang nicht bekannt waren“, hatte das Bistum Trier am Montag dieser Woche erklärt. Generalvikar Ulrich von Plettenberg sei mit einer Untersuchung beauftragt. Auskünfte darüber hinaus gibt es nicht. Bisherige Zwischenberichte der Unabhängigen Aufarbeitungskommission für das Bistum Trier  – der letzte entstand Ende 2022 – gehen nicht explizit auf die bis dato bekannten Vorwürfe ein.

Immerhin war man in Trier unter dem heutigen Bischof Stephan Ackermann 2012 und 2013 erneut tätig geworden. Nach einem anonymen Hinweis wurde der Fall Dillinger untersucht und nach Rom gemeldet. Der Pfarrer wurde sanktioniert – zunächst mit einem Verbot des Kontakts zu Kindern und Jugendlichen, dann mit dem Verbot öffentlicher Messfeiern.

Für die Folgejahre spricht Dillingers Neffe zwar von von Rückzug und einem Leben in Reue, Buße, Qual und Angst. Aber nach 2012 veröffentlichte Dillinger immerhin noch zwei Bände mit Predigten, kreuzte 2015 bei einem Treffen mit Bischof Adalbert Ndzana aus Mbalmayo in Fulda auf und 2016 beim Kongress „Freude am Glauben“ in Aschaffenburg. 2015 wirkte er auch an einem Gedenkband für den verstorbenen Fuldaer Bischof Johannes Dyba mit. In seinen letzten Lebensjahren litt er an einer Demenzerkrankung und starb schließlich an Corona.

In dem Fall ist auch der frühere rheinland-pfälzische Justizminister und Juraprofessor Gerhard Robbers unter Druck geraten. Robbers, selbst evangelisch, ist der vom Land Rheinland-Pfalz entsandte Vorsitzende der Trierer Aufarbeitungskommission und hat zuletzt angedeutet, Dillinger könne im Zentrum eines ganzen Pädophilen-Rings gestanden haben. Er hatte Dillingers Neffen nach dem Foto-Fund auf die heikle Rechtslage hingewiesen: Wer solche Fotos besitzt und gar zeigt, macht sich strafbar. Robbers habe ihm geraden, die Fotos zu verbrennen, behauptete der Neffe – der Jurist widerspricht.

Diese Rechtslage empfinde auch seine Kommission als unbefriedigend, „weil und soweit sie die Aufklärung beeinträchtigt“, erklärt Robbers der Rundschau: „Wir prüfen derzeit Möglichkeiten, das kinderpornographische Material zu sichern und auszuwerten. Polizeien und Staatsanwaltschaften ermitteln nicht, wenn der Täter bereits verstorben ist und übernehmen entsprechendes Material daher in der Regel nicht. Eine Vernichtung des Materials erscheint uns nicht sachgerecht.“

Mögliche Betroffene aus dem Erzbistum Köln können sich jederzeit an die drei unabhängigen Ansprechpersonen der Diözese wenden. Diese stehen für vertrauliche Gespräche und die Vermittlung von Hilfsangeboten zur Verfügung. Das Bistum Trier bietet eine Kontaktaufnahme unter intervention@bistum-trier.de an.

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