Interview mit Politologen„Europäer müssen glaubwürdige nukleare Option haben“

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nuklearwaffe russland

Eine russische Interkontinentalrakete des Typs "Jars" 

Der Politologe Herfried Münkler fordert im Interview mit Stefan Lüddemann eine Fähigkeit der Europäischen Staaten zur effektiven Abschreckung. Eine Perspektive für eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur des Westens und Russlands sieht er auf absehbare Zeit nicht.

Im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine sprechen jetzt viele von einer Zeitenwende. Ist er das – und wenn ja, warum?

Ja, es ist eine Zeitenwende, nicht zuletzt aus einer Paradoxie heraus: Bis zuletzt hatten einige europäische Regierungen, namentlich die deutsche und die französische, versucht, diese Zeitenwende zu verhindern. Sie wollten über Verhandlungen mit Putin eine Situation herstellen, in der man Politik mehr auf Vertrauen und auf Regeln basieren kann. Das Scheitern dieser Erwartung markiert in der Tat eine Zeitenwende, die sich in der Ankündigung einer Erhörung des deutschen Wehretats über 100 Milliarden Euro, eine unglaublich hohe Summe, niedergeschlagen hat.

Zur Person

Politologe Herfried Münkler

Politologe Herfried Münkler

Der Politologe Herfried Münkler , geboren am 15. August 1951, ist emeritierter Professor für politische Ideengeschichte an der Berliner Humboldt-Universität. Er hatte dort bis 2018 eine Professur für politische Ideengeschichte inne. Zu seinen wichtigen Büchern gehört unter anderem „Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch“ (2021).

Der Westen hat bislang auf Wandel durch Annäherung gesetzt. Ist dieses diplomatische Paradigma an ein Ende gekommen?

Jedenfalls Putin gegenüber, ja. Man hat die Erfahrung gemacht, lange an der Nase herumgeführt worden zu sein und ist als derjenige, der sich an Regeln hält, durch den notorischen Regelbrecher Putin düpiert worden. So etwas vergisst Politik nicht.

Was sind die unmittelbaren Konsequenzen? Muss man sich auf eine Welt der Regellosigkeiten einstellen?

Es werden nicht alle Regeln über Bord geworfen. Viele Regeln sind auch durch die geopolitische Struktur von Konfliktlagen vorgegeben. Sie sind nicht so sehr normativ begründet. Aber die Politik der Sanktionen, die jetzt in Kraft gesetzt wird, ist keine der bloß symbolischen Sanktionen. Russland soll aus den globalen Wirtschaftskreisläufen ausgeschlossen werden. Das wird wohl dazu führen, dass er sich noch weniger an Regeln hält: Das hat eine Fülle von Folgen, zumal dann, wenn Putin eine Ukraine erobert haben wird, die er bei der Eroberung zerstört hat und die aus Ruinen besteht.

Die Ukrainer wehren sich entschiedener als erwartet. Haben sie eine Chance?

Das ist nicht leicht zu sagen. Putin ist wohl davon ausgegangen, dass er mit einem relativ überschaubaren Einsatz von Kräften in der Lage ist, Kiew zu erobern oder zumindest den ukrainischen Präsidenten abzusetzen und durch eine Russland genehme Regierung zu ersetzen. Das ist gescheitert. Das liegt vor allem an dem unerwartet tapferen und zähen Widerstand der ukrainischen Armee und auch der Bevölkerung. Jetzt steht Putin vor dem Problem, seinen eigenen Militäreinsatz erhöhen, dabei aber sehr viel größere Verluste in Kauf nehmen zu müssen. Das muss er vor seiner eigenen Bevölkerung vertreten können. Und in Russland herrscht im Hinblick auf diesen Krieg keine durchgehende Begeisterung. Man kann sich fragen, ob die eher im ländlichen Raum lebenden Anhänger Putins bereit sind, ihre nicht sehr zahlreichen Söhne für ein solches Projekt zu opfern. Es ist nicht auszuschließen, dass Putin eine mit belarussischer Hilfe zustande gekommenen Beendigung der Kriegshandlungen verfolgt.

Angenommen, Russland besetzt die Ukraine: Übernimmt sich auch dieses große Land nicht?

Das ist eine der Überlegungen, die man im Westen angestellt hat. Militärische Macht wirkt kurzfristig und wesentlich destruktiv, während eine Besetzung der Ukraine Ausgaben fordert, die Russland nur schwer schultern könnte, zumal nicht unter den Bedingungen der jetzt verhängten Sanktionen.

Was will Wladimir Putin – einen Schutzkordon gegen den Westen, die Wiederkehr eines russischen Großreiches?

Die Idee eines Schutzkordons ist lange diskutiert worden. Man muss sich aber fragen, warum Russland das ausgerechnet jetzt will. Die Amerikaner sind gerade mit China beschäftigt, die Europäer eher mit sich selbst. Die Kluft zwischen beiden war bislang noch nicht wieder überbrückt. Das war eine für Putin eigentlich kommode Situation. Es gab keinen hohen Handlungszwang in Sachen Schutzkordon. Putin wird sich wohl gesagt haben, dass Russland als Reich nur agieren kann, wenn die Ukraine dabei ist. Die tendenzielle Aneignung von Belarus nach der Niederschlagung der Proteste gegen die gefälschten Präsidentenwahlen und sein wachsender Einfluss dort hat Putin wohl zu der Gewissheit geführt, dass ihm Vergleichbares wie in Minsk auch in Kiew gelingen könnte.

Gibt es noch eine Chance für eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur des Westens und Russlands?

Ich bin im vergangenen Jahr 70 Jahre alt geworden. Ich würde sagen: In meiner prospektiven Lebenszeit nicht mehr. Die einzige Chance bestünde darin, wenn es gelänge, Wladimir Putin vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag wegen der Führung eines Angriffskrieges anzuklagen, und ganz Russland würde applaudieren. Das wäre die Voraussetzung dafür, gegenüber einem Russland ohne Putin wieder Vertrauen aufzubringen. Dieses Vertrauen ist Voraussetzung für jene Formen gegenseitiger Abhängigkeit, auf die man sich mit Nordstream 1 und 2 eingelassen hat. Das waren zentrale Elemente einer Sicherheitsarchitektur, die weit über das hinausging, was Rüstungsbegrenzungsverträge beinhalten. Sie beruhten auf der Vorstellung einer Win-Win-Situation für beide Seiten. Diejenigen, die diese Politik betrieben haben, stehen im Ruch der Naivität. Das wird so schnell keiner mehr machen.

Welche Lehren sollten die Europäer aus dem gegenwärtigen Krieg ziehen?

Die Lehren drängen sich schon die ganze Zeit auf, schon in der Zeit Donald Trumps. Die Europäer brauchen strategische Autonomie, die Fähigkeit einer Abschreckung gegenüber jenen, die ihre Werte und ihre Freiheit bedrohen. Das könnte bis zu dem Punkt gehen, dass die Europäer eine eigene, glaubwürdige nukleare Option haben müssen. Das wäre mehr als die französische Force de Frappe. Gegenüber einem Politiker wie Wladimir Putin und der Möglichkeit einer Rückkehr Trumps an die Macht kann man sich nicht bedingungslos auf die USA verlassen. Das ist die bitterste Konsequenz aus dem, was sich gegenwärtig in der Ukraine abspielt.

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