Botschafter Kai SauerWie Finnland sich auf den Ernstfall vorbereitet

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Virolahti: Finnische Grenzschutzbeamte gehen am Grenzübergang Vaalimaa zwischen Finnland und Russland entlang.

Virolahti: Finnische Grenzschutzbeamte gehen am Grenzübergang Vaalimaa zwischen Finnland und Russland entlang.

Eine lange Geschichte mit seinem Nachbarn Russland hat die Strategie Finnlands maßgeblich geprägt. Für den Ernstfall und den Schutz des Landes ist jeder quer durch die Gesellschaft gerüstet.

Mit dem finnischen Beitritt hat sich die Nato-Grenze zu Russland um 1340 Kilometer verlängert. Die bis dahin neutralen Finnen haben eine Wehrpflicht, Europas stärkste Artillerie und ein besonderes Konzept zur Gesamtverteidigung, von dem die EU jetzt lernen soll. Botschafter Kai Sauer spricht mit unserer Redaktion über Sicherheit, die Lehren der Geschichte und Finnlands besonderen Blick auf Russland.

Seit dem Nato-Beitritt nehmen viele Deutsche mit Erstaunen zur Kenntnis, wie wehrhaft die finnische Gesellschaft ist. Was bedeutet eigentlich das Konzept der Gesamtverteidigung?

Es ist ein sehr vielfältiges Konzept, aber man kann es auf zwei Ebenen reduzieren. Die eine ist das Bewusstsein in der Bevölkerung: Jeder trägt den Sicherheitsaspekt immer mit im Hinterkopf. Es geht in erster Linie darum, dass jeder weiß, wo im Ernstfall sein Platz ist. Ob als Reservist oder auch als jemand, der verantwortlich für die kritische Infrastruktur ist, ein Krankenhaus oder ein Wasserwerk leitet. Jeder weiß, was er in der Lage zu tun hat, mit wem er zuerst telefonieren muss und so weiter.

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Und die zweite Ebene?

Das sind die gesellschaftlichen Strukturen. Hier liegt auch ein Unterschied zu Deutschland: Wir haben kein föderales System. Man braucht also nicht die Länderebene zu berücksichtigen. In Deutschland hat jedes Bundesland seinen eigenen Verfassungsschutz und die Kompetenzen enden an der Landesgrenze. Man muss sich mit sehr vielen Beteiligten koordinieren, das haben wir so nicht. Damit kann man natürlich schneller koordinieren und auch Entscheidungen treffen.

Verteidigungsminister Boris Pistorius hat gerade erst im Rahmen der Nato-Übung Finnland besucht. Gibt es etwas, das wir uns bei Ihnen abschauen können oder sogar sollten?

Der Besuch von Minister Pistorius und das Interesse an Finnland freut uns sehr. Wir sind immer bereit, unser Wissen und unsere Erfahrungen zu teilen, aber wir wollen keine Lehrmeister sein. Jedes Land muss seine eigenen Entscheidungen treffen, ob in Bezug auf Waffenlieferungen an die Ukraine oder auch, wie es seine Verteidigung organisiert. Zur Gesamtverteidigung gehört außerdem nicht nur die militärische Sicherheit, sondern auch z.B. die Cybersicherheit und nicht zuletzt die Resilienz der Gesellschaft.

Um die geht es auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: Sie hat Ihren Ex-Präsidenten Sauli Niinistö um einen Bericht gebeten, damit auch die anderen EU-Staaten von den Finnen lernen können. Wie trainieren Sie denn die Resilienz?

Nur ein Beispiel, das übrigens auch leicht auf Deutschland übertragbar wäre: Wir haben seit den 1960er Jahren einen „Landesverteidigungskurs“, der mehrmals im Jahr auf nationaler Ebene und in den Regionen angeboten wird. Das ist ein dreiwöchiger Lehrgang, zu dem verschiedene Entscheidungsträger eingeladen werden. Es sind insgesamt jeweils rund 50 Personen: Ein paar aus dem Parlament, höhere Beamte aus dem Außen- und Innenministerium, Militärs – aber auch Chefredakteure und Manager von Großunternehmen. Die sitzen drei Wochen lang zusammen, lernen sich kennen und erhalten einen sehr intensiven Lehrgang, von morgens um sieben bis in die Nacht. Es gibt Rollenspiele für einen Angriffsfall, es gibt Vorlesungen und Besuche an interessanten, auch geheimen Orten. Nach diesen drei Wochen ist man ganz anders programmiert und bekommt ein Verständnis davon, was Sicherheit überhaupt ist. Das heißt eben nicht nur, mit dem Gewehr an der Grenze zu stehen – sondern Medien, Wirtschaft, kritische Infrastruktur und Verwaltung müssen im Ernstfall zusammen funktionieren.

Und dann haben Sie ja auch noch die Wehrpflicht.

Genau: Die Führungsschicht kennt durch die Verteidigungskurse das Gesamtsystem, die Bevölkerung hat entweder den Wehr- oder den Zivildienst absolviert und ist somit Teil der Gesamtverteidigung. Und damit ist man insgesamt ganz gut aufgestellt. Das wäre also ein Beispiel für einen guten finnischen Exportartikel.

Dass Finnland anders als andere Staaten in Europa über all die Jahre nie aufgehört hat, wehrhaft zu sein, hat viel mit der Geschichte zu tun. Welche Erfahrungen haben Sie mit Russland gemacht?

Unser Verhältnis zu Russland wird zum einen durch die sehr lange Grenze bestimmt. Und zum anderen durch die Geschichte: Die hat für uns nicht erst im Zweiten Weltkrieg begonnen, sondern wir waren ja mehr als 600 Jahre Teil des schwedischen Königreiches. Da waren wir immer das Grenzland zu Russland. Also haben wir schon jahrhundertelange Erfahrung mit schwedisch-russischen Kriegen und Übergriffen von der russischen Seite. Es gab ja jahrelange Besatzungsperioden, unter der die finnische Bevölkerung ziemlich stark gelitten hat. Man kann die Geschehnisse aus Butscha auf Westfinnland im 18. Jahrhundert übertragen, und zwar mit genau denselben Gewalttaten: Vergewaltigungen, Verschleppungen, Plünderungen, Zerstörungen. Ein totaler Krieg, nur eben im 18. Jahrhundert. Aber das bestimmt immer noch unser Denken über Russland und die Sowjetunion. Dazu kam dann eben der Zweite Weltkrieg, also der Angriff von Stalin 1939. Da hat jede Familie Opfer zu beklagen.

Welche Lehren hat Finnland daraus gezogen?

Wir sind ziemlich stark von der Geschichte geprägt. Für uns war der Zweite Weltkrieg ein Verteidigungskrieg, den wir überlebt haben. Wir haben unsere Souveränität behalten und dadurch auch ein bestimmtes Nationalbewusstsein. Und da unterscheiden wir uns auch von Deutschland, weil die deutsche Geschichte viel schwieriger ist. Vielleicht ist das der deutlichste Unterschied zwischen Deutschland und Finnland: Unsere Erfahrung ist, dass wir durch das nationale Zusammenhalten unsere Existenz schützen konnten – in Deutschland war es quasi umgekehrt.

Auch deshalb tun sich viele Deutsche schwer damit, ihr Land in einer Führungsrolle zu sehen – vor allem militärisch.

Ja, das ist jetzt die große Frage, die ja auch hier in den Medien und im Bundestag breit diskutiert wird: Wie soll Deutschland auf die Bedrohung reagieren?

Sie selbst sind in Hamburg geboren, Ihr Vater ist Deutscher, Ihre Mutter Finnin.

Mein Vater ist 1942 geboren. Ich habe oft mit ihm darüber gesprochen und er sagt immer: „Wir sind mit dem Bewusstsein aufgewachsen: Nie wieder Krieg. Unsere Generation und auch die folgenden sind pazifistisch programmiert – aber jetzt sagen auf einmal alle Mensch, macht doch mal was, zeigt Führungskraft, Europa braucht Euch.“

Im Gegensatz zu uns Deutschen, die immer mit allem hadern, belegen die Finnen im Glücksatlas regelmäßig den ersten Platz. Wie erklären Sie sich diesen Umstand?

Wir sind auch immer ein bisschen überrascht. Aber ich denke, ein Grund liegt in unserem Vertrauen zueinander. Wir bekennen uns ziemlich stark zu unserem System. Man bezahlt Steuern und dafür bekommt man dann auch etwas: Eine Ausbildung, ärztliche Betreuung, eine Rente, relativ gute Straßen und es gibt keine Korruption. Also ist man auch bereit, dem Staat etwas zurückzugeben, um ihn zu verteidigen. Und das ist wahrscheinlich der Grund für die Zufriedenheit. Ich würde nicht sagen, dass wir überglücklich sind – aber zufrieden mit dem, was wir haben. Ein zweiter Punkt ist die Natur. Sie wissen, wir sind ein großes Land mit sehr wenig Einwohnern. Da ist der alte Witz aus der Coronazeit: Es war ein Schock, dass der Sicherheitsabstand auf zwei Meter festgelegt wurde. Normalerweise halten wir einen noch größeren Abstand zu unseren Mitmenschen, und anstatt sie zu treffen, gehen wir lieber in den Wald und pflücken Beeren und Pilze.

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