Europas Unternehmen hinken hinterher. Es seien Milliarden-Investitionen in die Wirtschaft nötig, warnt ein Bericht für die Kommission. Andernfalls würde die EU den sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Niedergang riskieren.
Rundschau-Debatte des TagesWie kann die EU wettbewerbsfähig bleiben?
Mario Draghi gilt als Retter in der Not, das zeigen nicht zuletzt seine heroischen Spitznamen wie „Super-Mario“ und „Mister Euro“. Der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank wurde unter anderem während der Staatsschuldenkrise für seinen Beitrag zum Überleben der Eurozone gefeiert. Nun stellte die EU-Kommission den Ökonomen vor eine ungleich größere Aufgabe: Es ging um nichts weniger als die Rettung der europäischen Wirtschaft. Was muss die Union tun, damit sie im Wettbewerb mit Firmen aus den USA und China nicht den Anschluss verliert?
Draghis ernüchternde Analyse
Draghis Antwort fiel für die Gemeinschaft so ernüchternd wie schmerzlich aus. Es brauche bis zu 800 Milliarden Euro pro Jahr, also rund fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) der EU, an zusätzlichen öffentlichen sowie privaten Investitionen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Andernfalls würde die EU den sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Niedergang riskieren. Zu dem schonungslosen Schluss kommt der knapp 400 Seiten lange Bericht für eine „neue Industriestrategie für Europa“, den Draghi und sein Team in den vergangenen zwölf Monaten zusammengestellt haben. Es handele sich um „eine existenzielle Herausforderung“, sagte der Italiener am Montagmorgen in Brüssel, wo er EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Report überreichte. Die Behördenchefin will diese Woche ihr neues Kabinett präsentieren und die Aufgaben der Spitzenbeamten für ihre nächste fünfjährige Amtszeit festlegen.
Radikale Therapie
Tatsächlich stellte der ehemalige italienische Ministerpräsident Europa nicht nur eine düstere Diagnose aus, sondern empfahl auch eine radikale Therapie, um schnelle Reformen umzusetzen. Man sei „an einem Punkt angelangt, an dem wir, wenn wir nicht handeln, entweder unser Wohlergehen, unsere Umwelt oder unsere Freiheit aufs Spiel setzen müssen“. Es geht um eine grundlegende Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik, unter anderem bezüglich der Art und Weise, wie die Gemeinschaft Investitionsmittel beschafft. Im Herzen offenbar noch immer Ex-Zentralbanker, drängte Draghi darauf, neue gemeinsame Schulden wie zuletzt in der Covid-Pandemie aufzunehmen, um den Bedarf in den Bereichen Industrie und Verteidigung zu finanzieren.
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So reagieren die Parteien
Solche Vorschläge kommen in Ländern wie Deutschland oder den Niederlanden traditionell schlecht an. Sie sträuben sich seit Jahren gegen die umstrittenen Eurobonds. „Neue gemeinsame Schuldentöpfe sind weder politisch realistisch noch ökonomisch sinnvoll“, sagte denn auch der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber, während der grüne EU-Parlamentarier Michael Bloss eine „deutliche Botschaft an Deutschland“ erkannte: „Das dogmatische Festhalten an der Schuldenbremse durch CDU und FDP ist die größte Wachstumsbremse für die deutsche Wirtschaft.“ Trotzdem, beide bezeichneten den Bericht als Weckruf. Die Wettbewerbsfähigkeit müsste zur obersten Priorität werden, so Ferber.
Verweis auf den Marshall-Plan
Draghi verwies auf den Marshall-Plan, das Wirtschaftsförderungsprogramm der USA für den Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg, durch das zwischen 1948 und 1952 mehr als 13 Milliarden Dollar nach Westeuropa flossen. Die Summe entspricht heute etwa 150 Milliarden Dollar. Laut Draghi brauche die EU doppelt so viel wie damals an Investitionen. Europa stecke in einer „statischen Industriestruktur“ fest. So tauchten nur wenige neue Unternehmen auf, die die bestehenden Industrien veränderten oder neue Wachstumsmotoren entwickelten. „Europa hat die durch das Internet ausgelöste digitale Revolution und die damit verbundenen Produktivitätsgewinne weitgehend verpasst.“ Die führenden Unternehmen bei den Forschungs- und Investitionsausgaben seien dem Italiener zufolge die gleichen, „die wir vor 20 Jahren hatten: unsere Autos.“
Rückstand im Tech-Sektor
Nur vier der 50 größten Technologieunternehmen der Welt seien europäisch. Schlimmer noch: Seit 2008 hätten 30 Prozent der sogenannten „Einhörner“, also Tech-Firmen, die auf einen Marktwert von mehr als eine Milliarde Euro angewachsen sind, die EU verlassen, obwohl sie hier gegründet wurden. Die meisten zog es in die USA. „Das Problem Europas ist nicht, dass es an klugen Köpfen oder guten Ideen mangelt“, so Draghi. Es gebe schlichtweg zu viele Hindernisse. Es war auch als Kritik an der Brüsseler Behörde zu verstehen, die seiner Meinung nach bei der Regulierung mehr „Selbstbeherrschung“ walten lassen muss. „Die gesetzgeberische Tätigkeit der Kommission hat übermäßig zugenommen.“ Mehr als die Hälfte der kleinen und mittleren Unternehmen beklagten sich über Papierkram und regulatorische Hürden.
Insgesamt müsse die Wirtschaft deutlich innovativer werden. Zudem unterstrich Draghi die Notwendigkeit, die Energiepreise zu senken und die Abhängigkeit von anderen Ländern zu verringern. Angesichts von Sektoren mit hohem Treibhausgasausstoß wie Schwerindustrie und Verkehr rief der Italiener die EU dazu auf, ihre Klimapolitik besser zu justieren. Stimmten alle politischen Maßnahmen mit den Klimazielen überein, sei es „sehr wahrscheinlich, dass die Dekarbonisierung eine Wachstumschance ist“.