Rundschau-Debatte zur EuropawahlEntziehen die Bürger der EU ihr Vertrauen?

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Europa-Fähnchen liegen auf einer Wahlurne (gestellte Aufnahme).

Europa-Fähnchen liegen auf einer Wahlurne (gestellte Aufnahme). Am 9. Juni sind Europawahlen in Deutschland.

Wird die Europawahl in knapp zwei Monaten zur Abstimmung über Wohl und Wehe der Gemeinschaft? Experten meinen, für einen Abgesang sei es noch zu früh.

„Zur Abstimmung steht nicht mehr und nicht weniger als das europäische Projekt. Es geht um offene Grenzen, einen freien Markt und rechtsstaatliche Prinzipien“, sagt Jörg Köpke vom Centrum für Europäische Politik, dem Thinktank der Stiftung Ordnungspolitik. Es gehe um ein Europa, das knapp 450 Millionen Menschen seit fast acht Jahrzehnten eine freiheitlich-demokratische Grundordnung, Frieden und Wohlstand garantiere.

Rückkehr nationaler Egoismen

Ähnlich weihevoll klingt es dieser Tage bei vielen Politikern, wenn sie über die Wahlen zum Europaparlament am 9. Juni sprechen. Mit dem Aufstieg der Populisten und einer Rückkehr nationaler Egoismen stehe Europa am Scheideweg, sagte etwa Katarina Barley nach der Nominierung zur SPD-Spitzenkandidatin. Und Ursula von der Leyen, die für Europas Christdemokraten ins Rennen zieht, um sich an der Spitze der EU-Kommission zu behaupten, betont: „Wir müssen Europa verteidigen gegen die Spalter von innen und außen“.

Tatsächlich ist es nicht zu übersehen, dass nationalistische und europafeindliche Parteien vielerorts auf dem Vormarsch sind. Und sie sehen das Heil nicht in einer immer engeren Zusammenarbeit der 27 Mitgliedstaaten, sondern in ihrer Entflechtung.

Von der Migration und dem Ukraine-Krieg über die angespannte Wirtschaftslage in vielen Mitgliedstaaten bis hin zur Energiefrage und umstrittenen Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels bestimmt ein Gemisch vielfältiger Krisen die diesjährige Wahl – und könnte EU-Skeptikern in die Hände spielen.

Krisen fordern ihren Tribut

Denn nach Finanzkrise, Corona-Pandemie und dem nicht enden wollenden Ukraine-Krieg sieht so mancher Bürger die Verantwortung für den drohenden Wohlstandsverlust in der gemeinschaftlichen Politik der EU – auch wenn das mit der Realität oft nichts zu tun hat.

Positive Entwicklungen, wie das Reisen, ohne an den Grenzen Ausweise vorzeigen oder Geld tauschen zu müssen, gelten vielen Menschen inzwischen als Selbstverständlichkeit; der beschwerliche Weg zu diesen Errungenschaften ist kaum mehr im öffentlichen Bewusstsein.

Hingegen rückt Negatives – wie zum Beispiel die Debatte um EU-Fahrtauglichkeitchecks im Alter – regelmäßig ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit. Mischt sich Europas Bürokratie nicht allzu oft in nationale Belange ein, wie ihre Miesmacher unken?

Linke und rechte Anti-Europäer

In bis zu 18 Ländern könnten anti-europäische Parteien zu den stärksten Kräften gehören. Besonders hoch ist die Ablehnung der EU in Ungarn. Auch in der Slowakei haben die Wähler jüngst einem Europaskeptiker ins Präsidentenamt verholfen. In Österreich liegt das Wählerpotenzial europakritischer Parteien laut der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) schon bei 30 Prozent, in Frankreich bei 42 Prozent.

In Belgien kommen europakritische Kräfte inzwischen auf besorgniserregende 60 Prozent der Stimmen. Da nehmen sich die potenziellen 26 Prozent in Deutschland geradezu gering aus. Die ECFR-Studie berücksichtigt sowohl linke wie rechte europakritische Parteien.

Hoffen auf hohe Wahlbeteiligung

So liegt die Absicht hinter den eindringlichen Warnungen vor einem Rechtsruck auf der Hand: Den Menschen vor Augen zu führen, was auf dem Spiel steht, wenn Europaskeptiker immer mächtiger werden. Und die Bürger zum Urnengang zu bewegen. Denn oftmals profitieren gerade Extreme von einer niedrigeren Wahlbeteiligung; abgesehen davon schadet eine große Wahlabstinenz dem demokratischen Gedanken grundsätzlich.

Hierzulande sind laut Statistischem Bundesamt knapp 61 Millionen deutsche Staatsbürger wahlberechtigt. Davon sind rund 4,8 Millionen potenzielle Erstwählerinnen und Erstwähler – über eine Million mehr als bei der Wahl vor fünf Jahren. Der Grund: Erstmals dürfen auch 16- und 17-Jährige an die Urne.

EU bei Erstwählern durchaus beliebt

Machen die Jungen also den Unterschied? Laut einer repräsentativen Befragung der Konrad-Adenauer-Stiftung ist die Zustimmung zur Europäischen Union bei Erstwählerinnen und Erstwählern sehr hoch. „Die Jüngeren zwischen 16 und 22 Jahren halten zu 81 Prozent Deutschlands EU-Mitgliedschaft für eine gute Sache, in der Gesamtbevölkerung sind es 76 Prozent“, heißt es im Text zur Umfrage.

Jüngere assoziieren die EU demnach vor allem mit Sicherheit und Wohlstand, während die Gesamtbevölkerung eher Frieden und Sicherheit mit ihr verbindet. Zudem verbinden Jüngere die EU öfter mit Stärke in der Welt (58 Prozent) im Vergleich zur Gesamtbevölkerung (37 Prozent).

Offenbar ist doch noch vielen Menschen bewusst, dass die EU angesichts massiver Herausforderungen, die sich in staatlichen Alleingängen schwer bewältigen lassen, wohl dringender gebraucht wird denn je. Auch der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat die Gemeinschaft zusammenrücken lassen. Die Frage ist nur: für wie lange?

CDU/CSU in Umfrage mit Abstand vorn

Die wohl stärkste politische Kraft in Deutschland dürfte bei der Europawahl mit großem Abstand die Union werden. Laut einer Forsa-Umfrage würden 34 Prozent der Befragten CDU und CSU wählen (Europawahl 2019: 28,9 Prozent). Die SPD landete demnach deutlich dahinter bei 16 Prozent (2019: 15,8). Es folgen die mit einem Austritt Deutschlands aus der EU liebäugelnde AfD mit 15 Prozent (2019: 11) und Grüne mit 14 Prozent (2019: 20,5).

Dem erstmals bei einer Wahl antretenden Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) würden laut einer Ipsos-Befragung für Euronews 7 Prozent der Befragten ihre Stimme geben. Abgeschlagen hinter den anderen Parteien landen in der Europawahl-Befragung mit jeweils 4 Prozent die FDP (2019: 5,4) und die Linken (2019: 5,5). Vertreten wären sie im EU-Parlament gleichwohl, denn bei dieser Europawahl gilt in Deutschland keine Sperrklausel.

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