Interview

Martin Schulz zur EU
„Wir leben nicht nur in einer Zeitenwende, sondern in einem Epochenbruch“

Lesezeit 6 Minuten
Martin Schulz

Verfechter der europäischen Idee: Martin Schulz.

Martin Schulz betrachtet die EU-Politik inzwischen von außen und attestiert mancher Debatte eine zu große Entfremdung vom Bürger. Für die Wahl ist er optimistisch – auch was seine SPD betrifft.

Als langjähriger EU-Parlamentspräsident hat Martin Schulz europäische Politik maßgeblich mitgeprägt. Heute beobachtet der ehemalige SPD-Chef das Projekt Europa von außen als Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung. Thomas Ludwig hat mit ihm anlässlich der Europawahl über die Herausforderungen für den Staatenbund gesprochen. Schulz bezieht Stellung zu den Fragen, woran es hapert und Lösungen für Europa aussehen könnten.

Vorfreude, Neugier oder Bangen – mit welchen Gefühlen schauen Sie, Herr Schulz, als ehemaliger EU-Parlamentspräsident auf die anstehende Europawahl?

Mit Vorfreude. Ich bin optimistisch, dass die Wahlbeteiligung steigen wird und dass im Verlauf des Wahlkampfs klar wird, wie wichtig die Rolle der Europäischen Union heute ist und dass sie noch wichtiger werden wird angesichts der Weltlage.

Was macht Sie optimistisch, dass die Wahlbeteiligung steigt?

Die Menschen spüren, dass wir nicht nur in einer Zeitenwende, sondern regelrecht in einem Epochenbruch leben. Die Frage ist doch: Wer behauptet sich in dieser Welt des 21. Jahrhunderts, wo autoritäre Regime auf dem Vormarsch sind und Demokratien angreifen? Jedes Land für sich allein oder die EU als starke Staatengemeinschaft? Diese Bedrohung ist im Bewusstsein von immer mehr Leuten angekommen. Hinzu kommt, dass eine starke Rechte zur Zerstörung der EU aufruft, das mobilisiert die Pro-Europäer.

Der europaweite Aufstieg von Euroskeptikern fällt letztlich auf die EU-Politik zurück. Wo sehen Sie die Ursachen?

Ich glaube, dass der Populismus von rechts davon profitiert, dass der Eindruck entsteht, dass in dieser globalisierten Welt, in der alles mit allem zusammen hängt, sich die demokratische Politik nicht um die Alltagssorgen der Menschen kümmert. Das ist ein dramatisches Problem. Und ganz ehrlich: Manche Debatte, die in Berlin oder in Brüssel läuft, kümmert sich auch nicht genügend um die Alltagsprobleme der Leute.

Sind viele Bürger nicht die Bevormundung leid, mit der die Brüsseler Politik in die Alltagswelt der Menschen hineinregiert? Stichwort Verbrenner-Aus. Oder die Bauernproteste in vielen Ländern...

Die Bauern protestieren, weil ihr Einkommen trotz riesiger EU-Subventionen oft nicht mehr ausreicht für ihren Lebensunterhalt. Und dann kommt da die EU und schließt manchger auch noch Handelsverträge mit anderen Teilen der Welt ab und importiert zusätzliche Lebensmittel. So entsteht ein Dilemma mit weiterem Handlungsdruck. Wenn man mit anderen Regionen dieser Erde Handel betreiben will, können sie die Landwirtschaft aber nie ausschließen. Und in anderen Regionen der Welt brauchen Menschen auch Lebensperspektiven, schon in unserem eigenen Interesse, um den Migrationsdruck zu begrenzen. Oder die Länder des globalen Südens fallen gleich in die Hände der Chinesen oder Russen, was Europa nicht wollen kann.

Die AfD denkt darüber nach, die Kompetenzen der EU zu beschneiden oder sogar Deutschlands Austritt anzustreben. Wird sie damit punkten können?

Der Erfolg der deutschen Wirtschaft beruht zum großen Teil auf dem Export. Und die meisten Exporte tätigen wir im europäischen Binnenmarkt. So ist die EU einerseits die Grundlage unserer längsten Friedensperiode und andererseits die Grundlage unseres Wohlstandes. Eine Partei, die sagt „Die EU muss sterben, damit Deutschland lebt“ verspielt die Chancen der nächsten Generation. Im Übrigen ist eine Partei, die den Austritt Deutschlands aus der EU fordert, verfassungsfeindlich. Artikel 23 des Grundgesetzes verpflichtet die Bundesrepublik, an der Vertiefung der europäischen Einigung mitzuwirken. Inzwischen, wo man weiß, dass auch Geld aus Russland an die AfD geflossen sein dürfte, müsste doch auch dem letzten klar sein, was das für ein Verein ist.

Dennoch liegt die AfD in Umfragen zur Europawahl gleichauf mit der SPD, bisweilen gar vor ihr. Wenn die SPD wieder nur 16 Prozent der Stimmen einfährt, wie vor fünf Jahren, muss Ihnen das ehemaligen Parteichef doch das Herz zerreißen...

Ich bin mir ganz sicher, dass die SPD bei der Europawahl deutlich besser abschneiden wird, als es die Umfragen voraussagen.

Wie das?

Angesichts des Krieges in der Ukraine wird im Wahlkampf die Frage eine ganz große Rolle spielen, wie sich Deutschland in einer so risikogeladenen internationalen Lage aufstellt und möglichen Eskalationen vorbeugt. Ich bin absolut dafür, die Ukraine zu unterstützen, finanziell und mit Waffen. Zugleich haben wir die Verpflichtung zu schauen, dass das, was wir tun, nicht zu einer Ausweitung dieses Krieges führt. Für diese umsichtige Politik steht Bundeskanzler Olaf Scholz.

Wie lange wird die Einheit der EU bei der Unterstützung der Ukraine bestehen bleiben? Immerhin droht die Gefahr, dass mehr und mehr Bürger fürchten, Sicherheit werde mit Wohlstandsverlust erkauft, weil wir ja unglaublich viel Geld in den Krieg und den Wiederaufbau der Ukraine pumpen.

Trotz aller Unkenrufe hat die EU bisher zusammengehalten. Das ist ein gutes Zeichen. Können wir es uns aber leisten, dass die Unterstützung für die Ukraine zulasten des gesellschaftlichen Zusammenhaltes geht? Nein, das können wir uns nicht leisten. Es darf sich also niemand einbilden, die nötige Unterstützung der Ukraine ließe sich mittelfristig mit dem Abbau des Sozialstaats finanzieren. Davon mag vielleicht ein Finanzminister Lindner von der FDP träumen. Das wird aber nicht Wirklichkeit in Deutschland. Bei den Haushaltsberatungen wird die Ampel darauf achten müssen, dass beides geht: Wir müssen mehr für unsere Sicherheit ausgeben, zugleich müssen wir unser Land auch modernisieren.

So wie es aussieht, werden die Christdemokraten im neugewählten Parlament wieder die größte Gruppe sein. Die Chancen für eine zweite Amtszeit von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stehen also gut. Hat sie sich in der ersten Amtszeit so gut geschlagen, dass wir uns auf eine zweite freuen dürfen?

Die Amtszeit von Frau von der Leyen ist stark geprägt von einer zunehmenden Regulierung durch die Kommission. Und international hat die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen an Einfluss verloren. Mit ihrer Steuer- und Subventionspolitik haben sich beispielsweise die USA Vorteile gegenüber der europäischen Industrie verschafft. Aus Brüssel hört man dazu nur leise Töne. Eine Strategie der EU-Kommission gegen den unlauteren Wettbewerb der USA gibt es nicht.

Sie halten eine zweite Amtszeit von der Leyens also nicht für ausgemacht?

Frau von der Leyen ist Spitzenkandidatin der EVP, der europäischen Christdemokraten. Deren Parteichef Manfred Weber liebäugelt ganz offen mit europäischen Rechtsextremisten. Säße ich jetzt als Sozialdemokrat im Europaparlament, würde ich erst mal sagen: Solange Frau von der Leyen sich von dieser Art von Politik nicht distanziert, kann sie nicht damit rechnen, von den europäischen Sozialdemokraten gewählt zu werden. Und ohne die sozialdemokratische Fraktion im Europaparlament wird es keine Mehrheit für Frau von der Leyen geben.

Für den sozialdemokratischen Spitzenkandidaten, den jetzigen Sozialkommissar Nicolas Schmit stehen die Chancen aber nicht besonders gut, oder?

Eines ist doch ganz klar: Ohne die sozialdemokratische Fraktion gibt es keine Mehrheit im Europaparlament. Ich glaube, dass das auch die große Chance von Nicolas Schmidt ist, deutlich zu machen, dass ohne eine sozial gerechte Europapolitik es keine Mehrheit für wie auch immer an der Spitze der Kommission geben wird.

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