Auf einer historischen Spurensuche hat Leslie Hendricks Dinge über ihren Urgroßvater herausgefunden, die sie nicht wusste.
NS-ZeitOverather Studentin begibt sich auf die Suche nach der Vergangenheit ihrer Familie

Urgroßvater Johann Wendling in Uniform der Wehrmacht.
Copyright: Leslie Hendricks
Johann Wendling war ein Mann, den ich nie kennenlernte, ein Mann, der einen anderen Nachnamen trägt als ich. Er ist ein Mann, den selbst meine Mutter, seine Enkelin, nur aus Erzählungen ihres Vaters kennt. Er ist mein Urgroßvater, ein Mann, über den ich mehr wissen wollte.
„Opa hat immer gesagt, dass er nach seiner Kriegsgefangenschaft nie wieder der Gleiche war.“ Das sagte mir meine Mutter, als ich sie auf ihren Großvater ansprach. Nie wieder der Gleiche. Was heißt das? Was passiert mit einem Menschen, dass er sich so verändert? Ich wollte Antworten. Aber alle, die ihn kannten, also so richtig kannten, sind tot. Also blieb nur eins: selbst auf Spurensuche gehen.
Die Oma und das Stammbuch halfen bei der Suche
Der erste Schritt, um mehr über männliche Verwandte im Zweiten Weltkrieg herauszufinden, geht über Namen, Zahlen und Orte. Wo wurde er wann geboren? Wann hat er wo gedient? Wo war er in Kriegsgefangenschaft? Die Mindestanforderung für einen Rechercheansatz ist der vollständige Vor- und Nachname des Gesuchten sowie das Geburtsdatum und der Ort. Ohne diese Angaben geht nichts.
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Meine Oma, das Stammbuch der Familie und einige wenige Dokumente konnten mir bei vielen Fragen weiterhelfen. Für weitere Anhaltspunkte waren auch die Stadtarchive eine gute Anlaufstelle. Mit diesen Angaben wendete ich mich mit einem Benutzerantrag und einer „Auskunft zu gesuchten Person“ an das Bundesmilitärarchiv in Freiburg. Die Formulare können auf der Website des Bundesarchivs ganz einfach heruntergeladen und anschließend per E-Mail versendet werden.
Die Ausbildung machte Wendling im Infanterie-Ersatz-Bataillon 212
Die Bearbeitungszeiten für Anträge dieser Art sind unterschiedlich. Dennoch erhielt ich schon nach wenigen Wochen eine Antwort. Das Bundesarchiv schickte mir ein personalisiertes Schreiben und zwei vergilbte Dokumente eingescannt zurück. Im Schreiben wurden die Kompanien und Bataillone aufgezählt, denen mein Urgroßvater angehört hatte: Nach seiner Ausbildung im Infanterie-Ersatz-Bataillon 212 wurde er dem Landesschützen-Bataillon 779 zugeteilt.

Schießübungen führte der Reichsarbeitsdienst aus.
Copyright: Leslie Hendricks
Als mein Urgroßvater 1941 dazu stieß, war das Bataillon in Pirmasens stationiert. Dort wurde er wahrscheinlich zu Bauarbeiten am zukünftigen Zwangsarbeiterlager Pirmasens und dem „Westwall“ eingesetzt. Das lässt zumindest das sogenannte Westwall-Abzeichen vermuten, das er auf einem alten zerknickten Foto an seiner Uniform trägt. Es wurde meist an Mitglieder des Reichsarbeitsdienst (RAD) verliehen, die bei der Errichtung der Grenzbefestigungen zum Westen geholfen hatten.
Das Familienarchiv ist eine Goldgrube
Ab 1942 fungierte das Lager in Pirmasens als Ankunfts- und Verteilungszentrum für Zwangsarbeiter aus Osteuropa. Johanns Bataillon wurde dann unter anderem zur Gefangenenbewachung eingesetzt. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass auch mein Urgroßvater die Zwangsarbeiter dort bewachte. Als ich das las, war ich erst mal still. So hatte ich mir meinen Urgroßvater nicht vorgestellt. Natürlich hoffte ich, dass er kein Teil dessen war, doch es lässt sich weder beweisen noch widerlegen. Doch das war noch nicht alles.
Die Dokumente aus der französischen Gefangenschaft bezeichnen ihn als „Bauarbeiter“. Außerdem zeigen kontextlose Bilder aus einer Holzschublade im Haus meiner Oma Schießübungen des RAD. Auf der Rückseite eines dieser Bilder steht in der geraden Schrift meines Opas „Vater im 2. Krieg“. Eine wahre Goldgrube für Hinweise ist und bleibt also das eigene Familienarchiv. Es schadet außerdem nicht, mal in Fachliteratur hineinzuschauen.
Für seine Dienste erhielt Wendling das „Schutzwall-Ehrenabzeichen“
Die anderen beiden Dokumente des Bundesarchivs bezogen sich jeweils auf die Kriegsgefangenschaft ab 1945. Seine beiden Bataillone wurden allerdings schon 1944 aufgelöst beziehungsweise ausgelöscht. Da stellte ich mir natürlich die Frage, was er zwischen der Auflösung des Bataillons und seiner Gefangennahme im späten April 1945 gemacht haben könnte. War er desertiert oder hatte er sich einem anderen Bataillon angeschlossen? Laut den Dokumenten aus der Gefangenschaft hatte er nur im Landesschützen-Bataillon 779 gedient.
Nach und nach ergab sich ein vages, aber etwas klareres Bild meines Urgroßvaters: Er war Schütze sowie Bauarbeiter gewesen. Er bewachte außerdem wahrscheinlich Gefangene. Für seine Dienste erhielt er das „Schutzwall-Ehrenabzeichen“, auch „Westwall-Abzeichen“ genannt. Er war nicht nur in französischer, sondern auch in US-amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Die Dokumente sind sich einig, dass Johann Wendling am 29.04.1945 gefangen genommen wurde. An diesem Sonntag befreite die US-Armee das KZ Dachau und Adolf Hitler verfasste sein Testament. Am nächsten Tag beging der Diktator in Berlin Selbstmord, was das Ende des Zweiten Weltkrieges besiegelte.
In Kriegsgefangenschaft wurde Mendling als Minenräumer eingesetzt
Auf einem der Dokumente steht schwer entzifferbar „Ershausen“ als Ort der Gefangennahme. Ich habe bisher nicht rausfinden können, welcher Ort genau damit gemeint ist. Auf einem anderen Dokument steht verschnörkelt „Pat Ershausen“. Es könnte also entweder Ershausen in Thüringen, das Kloster Patershausen in Heusenstamm oder vielleicht auch Petershausen in Bayern sein. Drei Monate später wurde er in Mulsanne in Frankreich interniert.
Dort blieb er im Depot 403, einem Gefangenenlager im Westen Frankreichs, das die Franzosen von den Amerikanern übernommen hatten. Auf einem Dokument ist außerdem eine Verlegung in ein anderes Lager vermerkt. An der Küste Frankreichs wurde er dann zu „Aufräumarbeiten“ eingesetzt. Damit war er einer von rund 40.000 deutschen Kriegsgefangenen, die ab Sommer 1945 in Frankreichs Minenräumkommandos eingesetzt wurden und tagtäglich ihr Leben dafür riskierten. Diese Minenräumer, Démineurs genannt, hatten zur Aufgabe, ohne Ausrüstung nach Minen zu suchen. Es handelte sich dabei in der Regel um Minen, die die deutschen Streitkräfte vor der Kapitulation gelegt hatten.
Die Auskunft des Bundesarchivs ist nur der Anfang
Was mich bisher am meisten überrascht hat, waren die Fingerabdrücke, die bei dem Dokument aus der Gefangenschaft beilagen. Dort, wo eigentlich der Abdruck des linken Zeigefinger hätte sein müssen, prangte ein geschwungenes „Missing“. Er hatte zu diesem Zeitpunkt wohl keinen linken Zeigefinger mehr. Diese Erkenntnisse waren auch meiner Familie neu. „Was?“, fragte meine Mutter schockiert. Johann war schon vor ihrer Geburt gestorben. Die Familie hatte nie etwas davon erwähnt.
Ich hatte großes Glück bei der Auskunft des Bundesarchivs. Nicht immer sind Dokumente zu den eigenen Verwandten vorhanden. Besonders wertvoll bleiben hierbei nach wie vor die Auskünfte zu Datums- und Ortsangaben, denn hier geht die eigentliche Detektiv-Arbeit los.
Mendling war kein Mitglied der NSDAP
Im Internet findet man im digitalisierten „Lexikon der Wehrmacht“ Informationen zu bestimmten Einheiten, Einsatzorten, Kommandeuren und Kompanien. Im besten Fall erhält man dadurch weitere Anhaltspunkte. Ich konnte beispielsweise durch die Einträge im Lexikon herausfinden, wo mein Urgroßvater stationiert war. Es lohnt sich außerdem in Gemeinden anzurufen und zu fragen, ob eventuell noch Dokumente wie Geburtsurkunden verfügbar sind. Die meisten sind sehr hilfsbereit. Die Devise hierbei lautet: Geduld und viel Herumtelefonieren. Zugehörig zum „Lexikon der Wehrmacht“ gibt es außerdem das „Forum der Wehrmacht“. Das klingt erstmal ein bisschen suspekt. Dort kann man aber sehr gut spezifische Fragen stellen, die die eigenen Vorfahren betreffen. In der Regel kommt schnell eine Antwort. Häufig traf ich auf Einträge von Menschen, die an ähnlichen Fällen forschen. Mithilfe des Forums konnte ich herausfinden, dass mein Urgroßvater wahrscheinlich zur Gefangenenbewachung eingeteilt war. So eine Reise in die Vergangenheit der eigenen Familie ist nicht immer angenehm, aber sie lohnt sich.
Mir wurde außerdem der Hinweis gegeben, mich an das zuständige Landesarchiv zu wenden. Sofern Soldaten vor 1947/48 aus ihrer Gefangenschaft zurückgekommen sind, mussten sie meist ein „Entnazifizierungsverfahren“ durchlaufen. Dieses Verfahren wurde von den US-Amerikanern eingeführt, um herauszufinden, welche Verbindung die untersuchten Personen zur NSDAP hatten. Dabei wurde in fünf Kategorien unterteilt: Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer und Entlastete. Mein Urgroßvater wurde der letzten Kategorie zugeteilt, weil er kein Mitglied der NSDAP war. Ob er dennoch an Kriegsverbrechen beteiligt war, lässt sich nicht klar sagen. Es ist aber nicht auszuschließen.
Die Nürnberger Prozesse waren in vollem Gange
Johann Wendling wurde am 4. Juni 1946 freigelassen. An diesem Dienstag vor 89 Jahren sind die Nürnberger Prozesse in vollem Gange. Schon im ersten Nachkriegsjahr freigelassen zu werden, war sehr ungewöhnlich. Freigelassen wurden nur diejenigen, deren körperliche Verfassung zu schlecht zum Arbeiten war.

Dieses Schreiben kündigt den Tod von Mendlings Sohn an.
Copyright: Leslie Hendricks
Als Johann Wendling am 6. September 1946 nachhause zurückkehrt, ist die Eifel unter französischer Besatzung. Auf ihn wartet nicht nur seine erschöpfte Familie, sondern auch die Nachricht, dass sein ältester Sohn Johann „Hans“ Wendling zwei Monate vor Kriegsende erschossen wurde. Er wurde nur 23 Jahre alt. Von meiner Familie weiß ich, dass mein Urgroßvater sehr krank aus dem Krieg heimkehrte. Er starb 1962 mit 59 Jahren.
Viele Fragen bleiben offen
Was bleibt also von meiner Spurensuche? Es bleiben Lücken. Die Lücken zwischen der Auflösung des Bataillons, der Gefangennahme und seiner Internierung bleiben bisher ein Mysterium.
Johann Wendling bleibt zwar ein Mann, den ich nie kennenlernte. Aber dank meiner Reise in die Vergangenheit ist er jetzt ein Mann, über den ich mehr weiß. Und vielleicht ist das der Sinn einer solchen Suche: nicht alles zu wissen, sondern nicht mehr wegzusehen.