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Interview

Herbert Reul
„Kölner Silvesternacht war eindeutig eine Zäsur“

6 min

NRW Inneminister Herbert Reul.

Knapp zehn Jahre nach den Übergriffen in der Kölner Silvesternacht 2015/16, die bundesweit Schlagzeilen gemacht hatten, spricht NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) im Rundschau-Interview über Lehren aus dem Fall.

Zum Jahreswechsel 2015/16 waren Sie noch nicht NRW-Innenminister, sondern CDU-Abgeordneter im Europäischen Parlament. Sie leben aber in der Nähe von Köln. Wie haben Sie von den damaligen Ereignissen mitbekommen, und was war Ihre erste Reaktion?

Ich habe es über die Medien erfahren, natürlich verspätet. Ich erinnere mich, dass ich mit Entsetzen, Ärgernis, Unsicherheit reagiert habe: Was ist denn da passiert? Da war auch ein Stück Unwissenheit, denn das war ja damals kein Thema, was ich auf dem Schirm hatte. 

In der Tat, das ging vielen Menschen so. Das Vertrauen in den Staat und in staatliches Handeln ist bei vielen Menschen erschüttert worden. Auch das Vorgehen der Polizei ist massiv kritisiert worden. Kann sich so was denn aus Ihrer Sicht wiederholen?

Das ist eine schwierige Frage. Ich glaube, alles kann sich in der Geschichte wiederholen, auch jeder Vorfall. Aber wir sind heute anders vorbereitet. Wir haben gelernt. Das ist der Vorteil der Polizei, dass sie nach jedem Einsatz, nach jedem Vorgang, der einigermaßen bedeutsam oder wichtig ist, eine Nachbereitung macht und Prozesse, wenn nötig, verändern kann. Und das war ja so ein außerordentlicher Fall, dass er natürlich eine Menge an Veränderungen in der Polizei ausgelöst hat. Daher glaube ich nicht, dass sich eine solche Situation genau so wiederholt. Aber man muss vorsichtig sein mit solchen Aussagen, weil die Welt kompliziert ist.  

Damals wurde auch kritisiert, dass die Polizei zu spät eingeschritten ist, dass sie überfordert war, dass es kaum möglich war, Strafanzeigen aufzugeben.

Diese Situation ist mit heute überhaupt nicht mehr vergleichbar. Erstens hat die Polizei in Nordrhein-Westfalen inzwischen völlig neue Technik und Ausstattung. Solche großen Einsätze an Silvester werden ganz anders vorbereitet, auch zum Beispiel in Zusammenarbeit mit der Bundespolizei. Wir reagieren heute besser, wenn Großereignisse anstehen oder man das Gefühl hat, dass es ganz anders werden könnte als zunächst erwartet. Ich war selbst sechs Jahre lang jede Silvesternacht in Köln. Da standen nicht ein paar Polizistinnen und Polizisten wie beim Jahreswechsel 2015/16, sondern Hundertschaften. Es hat sich wirklich unheimlich viel verändert.  

Weitere Teile unserer Serie zur Kölner Silvesternacht 2015 – zehn Jahre danach, finden Sie hier auf unserer Themenseite.

Der Vorplatz des Hauptbahnhofs zum Dom hin wurde vom Gewaltforscher Andreas Zick von der Universität Bielefeld seinerzeit als kesselförmige Arena bezeichnet, die schlecht zu sichern ist. Die Beleuchtung wurde bereits verbessert. Ist der Platz trotzdem noch eine Herausforderung für die Polizei?

Große Plätze, an denen sich viele Menschen versammeln, sind immer eine Herausforderung. Trotzdem glaube ich, dass der Platz heute sowohl in der Ausstattung als auch was die Präsenz von Polizeikräften angeht, nicht mit dem von vor zehn Jahren zu vergleichen ist. Da hat sich schon viel verändert. Aber trotzdem: Eine Aussage zu treffen, so was kann sich nicht wiederholen, das kann man nie. Ich halte es aber für unwahrscheinlich. Wir sind ganz anders vorbereitet. Es ist eine andere Ausgangslage. Vor allen Dingen würde man Entwicklungen, dass sich da solche Mengen von Menschen versammeln, heute anders bewerten.  

Der ehemalige Polizeidirektor Udo Behrendes hat in einem Gastbeitrag für ein wissenschaftliches Magazin beschrieben, dass die Polizei frühzeitiger auch hätte Internetforen auswerten sollen, weil Verabredungen der mutmaßlichen Täter dort stattgefunden haben sollen. Wird so etwas heute gemacht?

Ja, das ist inzwischen Standard. Nicht bei jeder Veranstaltung, aber bei Großveranstaltungen. Wir passen da schon auf. Wenn wir zum Beispiel wissen, es tut sich was in der Raser-, Poser oder Tuner-Szene, dann werten wir natürlich das Internet aus und gucken, wer sich mit wem und wo verabredet. Oder bei Demonstrationen und großen Protestgeschehen, wie zum Beispiel in Lützerath. Aber in einem solchen Fall wie in der Silvesternacht vor zehn Jahren, wo man keine Anhaltspunkte hatte, dass da viele Leute problematisch zusammenkommen, ist das eine ganz andere Lage. Es ist ja nach wie vor unklar, ob die sich vorher verabredet haben oder die Übergriffe spontan passierten. Wir können nicht ständig anlasslos ins Netz gucken, was sich tut. Aber natürlich haben wir heute einen ganz anderen Blick auf das Internet und eine intensivere Auswertung. Ich will jetzt darüber nicht urteilen, weil es so lange her ist und weil ich nicht zuständig war. Aber möglicherweise war das damals gar kein Thema. Das, was mittlerweile im Netz los ist, ist heute präsent in jeder Polizeibehörde und beim Landeskriminalamt oder beim Verfassungsschutz. Die digitale Beobachtung dessen, was im Netz auffällig ist, ist längst unser tägliches Geschäft.  

Bei der Auswertung der Unterlagen des Untersuchungsausschusses im NRW-Landtag zur Silvesternacht ist uns aufgefallen, dass es offenbar wenig Respekt vor der Polizei gab.

Ja, das ist ein Problem, das geblieben ist. Die Zahlen werden nicht kleiner, eher größer. Das bezieht sich allerdings nicht nur auf Polizistinnen und Polizisten, sondern auch auf andere Berufsgruppen von Rettungskräften bis zum Personal beim Amt oder in Krankenhäusern. Da hat sich eine Respektlosigkeit in dieser Gesellschaft entwickelt, die man nicht mit Gesetzen wegbekommt, auch nicht mit polizeilichen Maßnahmen. Das ist eher eine Frage von Haltung und Einstellung. Da sind andere Institutionen und die breite Masse der respektvollen Gesellschaft gefragt.  

Sie haben es schon betont, das kommt in unserer ganzen Gesellschaft vor. Aber eben auch bei den Gruppen, die in der fraglichen Silvesternacht kriminell aktiv waren. In einem Buch, das Sie geschrieben haben, fordern Sie mehr Integration von Geflüchteten. Sind wir da schon hinreichend auf dem richtigen Weg?

Nein, eindeutig nicht. Wir investieren wahnsinnig viel in Integration. Ich will keinen Menschen oder Institutionen, die an dem Thema arbeiten, sagen, dass sie es schlecht machen. Aber wir hätten ja nicht diese Probleme, wenn alles super laufen würde. Die Anzahl der Menschen, die zu uns gekommen sind, ist so groß, dass das mit den Instrumenten, die uns bekannt sind, nicht hinzukriegen ist., Wenn Sie sich eine Schulklasse vorstellen, in der zwei Kinder sitzen, die nicht Deutsch können, dann ist das für den Unterricht kein Problem. Sind es aber 20, die nicht Deutsch können, funktioniert der Unterricht nicht mehr. Da sind die Lehrerinnen und Lehrer überfordert. Mit diesem Beispiel will ich sagen: Wenn wir so viele zugewanderte Menschen haben, stoßen wir zwangsläufig an Grenzen, was etwa Deutschkurse, Kitaplätze oder Wohnungen angeht. Heißt in Konsequenz zum Beispiel, dass die Menschen zu lange in Massenunterkünften leben müssen. Dass das keine Integration fördert, liegt auf der Hand.  

Sie fordern deshalb eine Begrenzung des Zuzugs?

Auch in diesem Bereich gibt es keine Zauberlösung. Aber mit der aktuellen Gesetzgebung zur Zuwanderung sind viele Schritte gemacht worden, die richtig sind und in der Summe helfen. Als damit angefangen wurde, die Grenzen zu kontrollieren, haben viele Menschen gefragt, was das soll. Mittlerweile merken wir aber, dass es Verabredungen in Europa gibt, sich gemeinsam um die Außengrenzen der Europäischen Union zu kümmern, bis hin zu möglichen gemeinsamen Durchgangslagern. Das war noch vor ein paar Monaten gar nicht denkbar. Das heißt, da hat sich unheimlich viel verändert. Das ist wie Domino, ein Schritt führt zum nächsten. Und in der Summe sind diese Maßnahmen hilfreich.  

Apropos Domino: Die Kölner Silvesternacht war auch ein Schlüsselereignis, das Rechtsextreme auf den Plan gerufen hat, es gab Demonstrationen und Gewalt. Solche Gefahren haben Sie polizeilich auch stets im Blick?

Das war eindeutig eine Zäsur. Nach diesem Ereignis hatten die rechtsextremen Kräfte nicht nur eine Geschichte, die sie erzählen konnten, sondern auch die angeblichen Beweismittel. So etwas kann sich in anderem Zusammenhang jederzeit wiederholen.  

Wie feiert der Mensch Herbert Reul eigentlich dieses Jahr Silvester?

Das verrate ich Ihnen nicht. Aber wenn alles gut geht, diesmal nicht in Köln auf der Domplatte.  

Aber Sie lassen sich trotzdem informieren, falls es angespannte Lagen geben sollte?

Ja, klar. Ich bin erst letztes Jahr das erste Mal nicht vor Ort am Kölner Hauptbahnhof gewesen und möchte dieses Jahr auch nicht dort sein. Ich kann ja nicht jedes Mal da rumlaufen. Damit verhindere ich selbst solche Vorgänge auch nicht. Es war damals meine demonstrative Solidarität mit den Polizistinnen und Polizisten, die sich die Nacht in einer besonders angespannten Situation um die Ohren schlagen müssen. Aber wir werden garantiert auch in diesem Jahr wieder an mehreren Stellen auch in Köln mit starken Polizeikräften an den Orten sein, an denen viele Menschen zusammenkommen. Große Menschenmengen, plus Alkohol plus Feierlaune birgt immer ein Risiko – nicht nur in Köln. Aber Köln war vor zehn Jahren halt der Fall, an dem das am klarsten geworden ist. Wir haben in anderen Städten Ähnliches gehabt, auch kommt es zu anderen Gelegenheiten immer wieder zu störendem Verhalten, wie beispielsweise an Halloween. Dieses Jahr war es bisher insgesamt relativ ruhig. Aber wer weiß, ob das so bleibt – ich hoffe es jedenfalls.

Vielen Dank für das Gespräch.