Die Silvesternacht 2015 in Köln: Massenweise unternahmen junge Männer vorwiegend aus Nordafrika Diebstähle und sexuelle Übergriffe. Thomas Schulte war der Leiter einer Ermittlungsgruppe, die die Straftaten aufklären sollte.
Silvester in Köln 2015So kam der Chefermittler den Tätern auf die Spur

Nur wenige der Täter wurden konnten noch in der Silvesternacht festgenommen werden.
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Sie waren nach der Kölner Silvesternacht 2015/16 der Leiter einer Ermittlungsgruppe, der in der Spitze 150 Polizeibeamte angehörten. Was war die konkrete Aufgabe dieser Ermittlungsgruppe?
Unsere offizielle Aufgabe war es, die Straftaten aus der Silvesternacht aufzuklären sowie möglichst viele Täter zu ermitteln. Aber es ging auch ganz wesentlich darum, das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei wieder herzustellen.
Dabei müssen Sie und ihre Kollegen unter einem hohen Druck gestanden haben, denn damals wurde der Vorwurf laut, die Ordnungsmacht habe in der Silvesternacht versagt, rund um den Kölner Dom und den Hauptbahnhof sei ein rechtsfreier Raum entstanden.
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Der Druck war immens. Es gab hohe gesellschaftliche Erwartungen, denn die Ereignisse in dieser Nacht sorgten bundesweit für Schlagzeilen. Selbst der damalige US-amerikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump thematisierte die Kölner Silvesternacht in seinem Wahlkampf. Ich habe fast täglich lange Gespräche mit dem NRW-Innenministerium geführt.
Und was den Druck sicherlich nicht gemindert hat: Die Ermittlungsgrundlage war denkbar schlecht. Es gab nur sehr diffuse Bilder von der Tatnacht. Die Täter tauchten in der Menschenmenge ab.
Genau das waren die Probleme. Wir hatten im Bereich des Hauptbahnhofes und des Doms Kameras mit sehr schlechter Auflösung. Dazu kam, dass diese Kameras hoch oben installiert waren. Wir sahen also in den Aufzeichnungen auf die Köpfe einer großen Menschenmenge und das bei schlechter Bildqualität. Dabei fanden die Taschendiebstähle und die sexuellen Übergriffe überwiegend im Bereich des Unterleibes statt. Das alles machte uns die Arbeit sehr schwer.
Dennoch konnten Sie und ihre Kollegen 299 Tatverdächtige ermitteln. Wie gelang das unter diesen Umständen?
Wir haben mehrere Ansätze für unsere Ermittlungen gefunden. Einen Ansatz hatte ich einem sehr kreativen Kollegen zu verdanken, dem ich heute noch dankbar dafür bin. Wir besaßen die Daten der Funkzellen aus dem Bereich des Doms und Hauptbahnhofes. Jedes Handy mit Sim-Karte, das in dieser Nacht in diesem Bereich war, loggte sich dort ein. Das Problem dabei: Es waren 1,4 Millionen Daten für den Zeitraum der Taten. Der Kollege fragte mich dann: Was machts du denn in der Silvesternacht um 24 Uhr? Ich küsse meine Frau und stoße mit den Freunden an, war meine Antwort. Und dann?, fragte er weiter. Dann rufe ich meine Eltern an. Und das war der Punkt, auf den er hinauswollte. Aus den Daten ergab sich nämlich, dass die meisten Anrufe nach Mitternacht über diese Funkzellen nach Nordafrika gingen. Dieser Ansatz ergab eine Liste mit rund 400 Telefonnummern. Das war unser Startpunkt für Ermittlungen.
Was waren weitere Ansätze?
Mich erreichte ein Anruf eines Kollegen vom Scotland Yard, der mir berichtete, dass sie nach einer Reihe von gewaltsamen Demonstrationen mit sogenannten Super-Recognizern gute Ermittlungserfolge erzielen konnten. Das sind Menschen mit der besonderen Fähigkeit, Gesichter von Gesuchten auch in großen Menschenmengen wieder zu erkennen, selbst wenn die Gesichter nur schlecht zu erkennen sind. Wir haben die englischen Kollegen nach Köln eingeladen, wo sie uns das System vorgestellt haben. Zudem konnten wir in Köln 3 Menschen mit dieser besonderen Fähigkeit für unsere Ermittlungen gewinnen.

Thomas Schulte leitete die Ermittlungsgruppe zur Silvesternacht 2015 in Köln.
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Können Sie Beispiele nennen, wie die Arbeit der Super-Recognizer auf die Spur der Täter führte?
Unter anderem durch die Methode der Rückverfolgung. Konkret: Eine Gruppe von Frauen hat in der Silvesternacht in der Wache der Bundespolizei am Hauptbahnhof Anzeige erstattet. Die Super-Recognizer konnten diese Frauen auf weiteren Aufzeichnungen von Überwachungskameras ausfindig machen. Und indem sie die Kameras rückwärts – von der Anzeige bis zur Tat - auswerteten, konnten sie trotz der schlechten Bildqualität entsprechende Täter erkennen. So gelang es uns, ihren Weg von der Wache aus zurückzuverfolgen - bis zum Tatort. Dort machten wir einen Mann mit weißem Schal aus. Die weiteren Auswertungen überführten ihn als Täter.
Sie sind aber auch an Bildmaterial mit besserer Auflösung gelangt. Wie?
Unter anderem mit der sogenannten Boston-Infrastructure. Amerikanische Ermittler haben nach dem Anschlag auf den Boston-Marathon einen Sever bereitgestellt, auf dem Augenzeugen Videos und Fotos von ihren Handys hochladen konnten. Über diese Methode sind auch wir an Bildmaterial von besserer Qualität herangekommen. Zudem konnten wir die hochwertigeren Aufzeichnungen der McDonalds-Filiale an der Komödienstraße auswerten. Auch dort waren die Täter unterwegs.
Noch bevor sie die Ermittlungsgruppe leiteten, hatten sie sich mit Straftaten beschäftigt, die gezielt von jungen Männern aus den Maghreb-Staaten begangen wurden. Waren ihnen die Täter aus der Silvesternacht bereits bekannt?
In Köln gab es seit 2012 ein Analyseprojekt zu Straftaten, die von jungen Männern aus den Maghreb-Statten begangen wurden. Die Zahlen hatten sich damals massiv erhöht. Es handelte sich dabei um Taschendiebstähle, Raub sowie Wohnungs- und Fahrzeugeinbrüche. In der Ermittlungsgruppe stellten wir jedoch fest, die Täter der Silvesternacht kamen zumeist nicht aus den Gruppen, die wir bereits durch das Analyseprojekt auf dem Schirm hatten. Sie kamen überwiegend von außerhalb und hatten sich über soziale Netzwerke verabredet. Dabei handelte es sich um Flüchtlinge, die 2014, 2015 aus Nordafrika nach Deutschland gekommen waren.
Sie hatten also schon Jahre vor der Silvesternacht das Täter-Klientel im Blick. Sie kannten ihr kriminelles Potenzial. Die massiven sexuellen Übergriffe in der Kölner Silvesternacht haben sie dennoch kalt erwischt?
Das hat uns sogar ganz kalt erwischt. Diebstähle, Raub und eine hohe Gewaltbereitschaft, das kannten wir alles bei dieser Klientel. Doch solche Sexualdelikte hatten die jungen Nordafrikaner in Köln bis dahin nicht begangen. Darum haben wir nach der Silvesternacht einige verdeckte Maßnahmen durchgeführt und dabei festgestellt, dass die Nordafrikaner, die aus Köln kamen, schockiert waren von ihren Landsleuten, die in der Silvesternacht anreisten und hier sexuell übergriffig wurden. Sie befürchteten, dass ihnen ihr ihr kriminelles Geschäft kaputt gemacht wird. Denn es wurde ihnen schnell bewusst, dass diese Taten weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen werden.
Um das klarzustellen: Die Männer machten sich Sorge um ihr „Geschäft“. Sie waren nicht schockiert darüber, was den Frauen angetan wurde?
Wir haben uns natürlich auch gefragt, was die Täter dazu gebracht hat, so menschenverachtend vorzugehen. Wir hatten damals bei der Kölner Polizei zwei Praktikanten aus Nordafrika. Die haben mir erklärt: Diese jungen Männer stammen aus ländlichen Regionen und hatten auch in ihrem Heimatland kaum eine Chance auf gesellschaftlichen Aufstieg. Sie bezeichneten sie als eine verlorene Generation. Zwar seien diese Flüchtlinge muslimischen Glaubens, aber nur insoweit, wie es ihnen in die eigenen Belange passt. Auf der einen Seite konsumieren sie Alkohol und Drogen, nehmen vor ihren Diebeszügen Substanzen ein, die enthemmend wirken und schmerzunterdrückend sind. Auf der anderen Seite sehen sie nicht verschleierte Frauen mit westeuropäischem Lebensstil als Freiwild an. Auf einer fundamentalistischen Internetseite wurden die Ereignisse der Silvesternacht mit den Worten kommentiert: Was soll der Löwe denn machen, wenn man ihm die Antilope zu Füßen legt.
Sie haben das Vorgehen der Täter ermittelt. Haben Sie sich auch um die betroffenen Frauen gekümmert?
Wie haben es über unser Netzwerk Opferschutz geschafft, mit fast allen Betroffenen Gespräche zu führen und ihnen Hilfsangebote zu machen. Man muss sich nur mal diese traumatischen Erlebnisse vor Augen führen: Die Frauen waren in bester Feierlaune unterwegs, dann werden sie plötzlich gewaltsam von ihren Freunden und Begleitern getrennt, sie sehen sich von einer Gruppe arabisch aussehender Männer umringt, beleidigt, bedroht, werden begrapscht und bestohlen. Sie waren in Todesangst, schockiert darüber, dass so etwas in Deutschland passieren kann.
Sie haben 299 Tatverdächtige ermitteln können, aber letztlich sind nur sehr wenige von den Überführten auch verurteilt worden. Sind sie dennoch mit der Aufarbeitung der Silvesternacht zufrieden?
Die juristische Bewertung möchte ich anderen überlassen. Als wir in der Ermittlungsgruppe die Arbeit aufgenommen haben, war meine Erwartungshaltung gering. Wie gesagt, die Ausgangslage war sehr schwierig. Doch wir haben neue, kreative Methoden entwickelt und konnten so 299 Tatverdächtige ausmachen. Ich finde, das ist unter den damaligen Umständen ein gutes Ergebnis.
