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Interview

Gutachter zu Silvesternacht 2015
„Betroffene fühlten sich hilflos und alleingelassen“

7 min

Vor allem die zahlreichen Sexual-Delikte schockierten bundesweit.

Silvester 2015 in Köln: Rund tausend junge Männer begehen auf der Domplatte und dem Bahnhofsvorplatz massenhaft Straftaten. Kriminalpsychologe Prof. Dr. Rudolf Egg hatte für den Untersuchungsausschuss ein Gutachten erstellt.

Massenhafte Diebstähle und sexuelle Übergriffe, begangen von jungen Männern, vorwiegend aus nordafrikanischen Ländern und Syrien: Wie es dazu in der Silvesternacht 2015/2016 auf der Domplatte und am Bahnhof kommen konnte, versuchte ein Untersuchungsausschuss des Landtages zu klären. Der Ausschuss beauftragte den Kriminalpsychologen Prof. Dr. Rudolf Egg mit einem Gutachten.

Wie haben Sie damals die Silvesternacht verbracht und wann haben Sie von den Kölner Ereignissen erfahren?

Bei mir zuhause in Wiesbaden, mit ein paar Gästen. Erst am übernächsten Tag habe ich erfahren, was in Köln passiert ist – und war doch sehr überrascht über die Ereignisse und Vorwürfe, die dort erhoben wurden.

Wann erhielten Sie die Anfrage, ein Gutachten für den Untersuchungsausschuss des Landtages NRW zu erstellen?

Im Juni 2016 erreichte mich ein Telefonanruf dazu. Normalerweise bitte ich mir bei Aufträgen zu gutachterlicher Expertise Bedenkzeit aus, schaue erst einmal in meinem Kalender nach freien Zeiten. Aber bei dieser Anfrage war für mich nur eine Antwort denkbar: Ich habe, ohne zu zögern, „Ja, gerne!“ gesagt. Die Dimension der Ereignisse hat mich als Kriminologe sehr interessiert. Aber ich habe nicht geahnt, auf was ich mich da einlasse.

Was kam denn da auf Sie zu?

Ich wusste weder, welche Fragen ich klären soll, noch, um wie viele Fälle es sich handelt. Und schon gar nicht wusste ich, wie viel Zeit ich für das Gutachten bekomme. Erschwerend kam hinzu, dass ich kurz vor Antritt einer Reise stand. Ich konnte mich also zunächst nicht weiter darum kümmern. Erst als ich aus dem Urlaub zurückkam, fand ich im Briefkasten den Auftrag, bis Ende September 2016 die Beantwortung von nicht weniger als 20 Fragen vorzulegen. Da bin ich ehrlich gesagt ein bisschen unruhig geworden.

Wie war Ihre Ausgangslage?

Grundlage für die Beantwortung der Fragen, die der Ausschuss an mich hatte, sollten die Strafanzeigen in Folge der Silvesternacht sein. Die Strafanzeigen wurden mir digitalisiert auf einem USB-Stick übermittelt. Ich habe dann händeringend nach Hilfskräften gesucht, die bereit waren, mit mir die Fülle der Anzeigen auszuwerten und konnte zum Glück zwei Studenten dafür gewinnen.

Aus ihrem Gutachten geht hervor, dass es genau 1022 Strafanzeigen waren.

Ja, wobei es sogar noch mehr gab. Aber nicht alle waren auswertbar, weil es für einzelne Fälle auch Doppelmeldungen gab.

Gab es etwas, was Ihnen bei der Sichtung der Anzeigen sogleich ins Auge sprang?

Ich habe erst einmal ein Muster entwickelt, damit ich die Anzeigen systematisch bearbeiten konnte. Schnell zeigte sich eine gewisse Ähnlichkeit: Die Strafanzeigen waren überwiegend kurzgehalten, es wurden nur wenige Details berichtet, aus denen sich aber ein einheitliches Bild abzeichnete. Die überwiegend weiblichen Geschädigten beschrieben, wie sie im Domumfeld von Männergruppen umringt und begrapscht wurden. In den allermeisten Fällen handelte es sich also um sexuelle Übergriffe, teilweise mit Diebstählen verbunden.

Ging aus den Anzeigen auch hervor, was diese Taten mit den betroffenen Frauen machten?

Es wurde deutlich, dass die Betroffenen nicht allein durch die Tatsache, dass sie Opfer sexueller Übergriffe wurden, schockiert waren. Für sie war es eine zusätzliche Belastung, dass sie sich in einer großen Menschenmenge hilflos und alleingelassen fühlten.

In den Protokollen des Untersuchungsausschusses ist in diesem Zusammenhang die Formulierung zu lesen: „Auf die Straße entlassen“. Was bedeutet das?

Eine Anzeige vom Neujahrsmorgen 2016

Einige betroffene Frauen gaben eine Anzeige auf, sie standen noch unter dem Eindruck des Erlebten und wurden dennoch in ihrem Zustand nicht weiter betreut, sondern eben einfach wieder „auf die Straße entlassen“. Und es gab sogar Fälle, in denen sie in Köln ihre Anzeige nicht aufgeben konnten und das andernorts tun mussten. Eine junge Frau berichtete auch, dass man zu ihr nach dem Vorzeigen ihres Ausweises bei der Polizei gesagt hatte: „Du kommst doch aus Köln, dann weißt du doch, dass du hier nicht feiern gehen darfst.“

Sie sollten auch untersuchen, ob es unter den Tätern Absprachen gab, ob ihr Vorgehen organisiert war?

Ja, das war eine der Fragestellungen. Aber diese Frage ging über das hinaus, was ich aus den Anzeigen entnehmen konnte. Denn woher sollten die Betroffenen wissen, ob sich die Täter abgesprochen hatten? Eine der belästigten Frauen berichtete, dass sich die Männer etwas zugerufen hätten, aber es ließ sich nicht feststellen, ob das planmäßige Absprachen waren.

Wie kam es dann zu den massenhaften Übergriffen nach immer gleichem Vorgehen?

Es gab keine eindeutigen Hinweise darauf, dass sich die Täter systematisch dazu verabredet hatten, am Kölner Hauptbahnhof Frauen sexuell zu belästigen. Vielmehr verabredeten sie sich wohl zum Feiern in Köln. Und weil die vorwiegend aus nordafrikanischen Ländern stammenden Männer wahrscheinlich nicht genügend Geld für Getränke in einem Lokal oder für den Eintritt in einen Club hatten, blieben sie im Bahnhofs- und Domumfeld. Dieser Bereich wurde dann von Frauen passiert, die auf dem Weg zu einer Feier waren. In einer der Anzeigen, die mir besonders im Gedächtnis geblieben ist, berichteten vier Frauen, dass sie von ihrem Hotel aus auf dem Weg zum Alten Wartesaal waren. Dabei mussten sie durch die Menschenmenge vor dem Dom gehen. Dort wurden sie plötzlich von etwa 50 Männern umringt, voneinander getrennt, begrapscht und bestohlen.

Um zu erklären, wie es zu den massenhaften, wie koordiniert wirkenden Übergriffen kam, haben Sie in dem Gutachten die „Broken-Windows-Theorie“ angeführt. Können sie das erklären?

Wenn sie mit einem leeren Trinkbecher in der Stadt unterwegs sind, würden sie sich einen Mülleimer suchen. Auf einem Open-Air-Konzert hingegen finden sie keinen Mülleimer und sehen viele Becher auf dem Boden liegen. Dann denken sie sich: Auf meinen Becher kommt es jetzt auch nicht mehr an und schmeißen ihn weg. Eine solche soziale Ansteckung gab es auch in der Silvesternacht – nur eben weit schwerwiegender als bei einem weggeworfenen Becher. Die Männer kamen vorwiegend in der Absicht nach Köln, um zu feiern. Vor Ort stellten sie bald fest, dass es so gut wie keine Kontrollen, keine Polizeipräsenz gibt. Schon gegen 18 Uhr wurden die ersten Raketen auf Kirchen geschossen, in denen Gottesdienste gefeiert wurden. Die Polizei griff nicht ein. Dom- und Bahnhofsumfeld wurden zunehmend als ein quasi rechtsfreier Raum wahrgenommen, in dem scheinbar alles geht. Es kam dann zu ersten sexuellen Übergriffen  –  und auch die blieben ohne Konsequenzen. Daraus entstand eine Sogwirkung: Immer mehr Männer begingen immer mehr Taten. Durch Masse und Menge sah es so, als ob es ein koordiniertes, abgesprochenes Vorgehen war.

Damit das nicht so klingt, als seien die Täter in ihre Taten hineingerutscht: Sie haben auch das Beispiel eines Ladendiebstahls angeführt. Dazu brauche es erstens die Möglichkeit und zweitens den Willen. Übersetzt auf die Silvesternacht heißt das: Die Täter fanden die Gelegenheit zur Tat vor, hatten aber auch den Willen dazu?

Zumindest die latente Bereitschaft, sonst wäre das alles nicht passiert. Aber nicht alle haben mitgemacht, das muss man ausdrücklich sagen. Ich erinnere mich an eine Anzeige, in der berichtet wurde, ein Mann sei von einem anderen aufgefordert worden, mitzumachen, er habe aber betont, dass er so etwas nicht mache. Und es gibt Berichte von Männern, die Frauen geholfen haben, sich aus der Masse zu lösen.

Sie wurden zweimal von dem Untersuchungsausschuss angehört, sie haben auch den Abschlussbericht gelesen: Haben Sie den Eindruck, die Ereignisse in der Silvesternacht wurden durch den Ausschuss gut aufgearbeitet?

Ich muss sagen, ich war beeindruckt. Ich hatte meine Expertise schon bei Gesetzesreformen in Ausschüssen des Bundestages eingebracht oder bei der Begutachtung von Tätern im Strafvollzug. Aber einen Fall von solcher Dimension und Tragweite hatte ich noch nicht. Dabei beeindruckte mich vor allem, mit welcher Gründlichkeit vorgegangen wurde. Ich dachte mir, so funktioniert Demokratie: Das Parlament deckt mit Akribie Fehler und Versäumnisse auf und schafft die Grundlage für Verbesserungen.

Aus Ihrer Sicht als Kriminologe: Hat die Kölner Silvesternacht die Republik verändert?

Ja, aber vielleicht nicht in dem Maße, wie man damals glaubte. Denn beispielsweise der Anschlag auf den Weihnachtmarkt am Berliner Breitscheidplatz rund ein Jahr später hatte nochmals eine andere Dimension von Kriminalität. Die einzelnen Taten in der Kölner Silvesternacht waren zwar sexuelle Übergriffe, aber überwiegend keine schwere sexuelle Gewalt. Es gab Mutmaßungen, die Taten könnten eine politische Dimension haben, weil sie im Schatten eines christlichen Symbols, des Kölner Doms, stattfanden. Für diese These konnte ich aber keine Anhaltspunkte finden. Wären mehr Täter aus der Silvesternacht überführt worden, wären dabei wahrscheinlich keine hohen Strafen herausgekommen. Was die Ereignisse in dieser Nacht hervorhob, waren die Vielzahl der Fälle über einen langen Zeitraum hinweg und das Versagen der Ordnungsmacht. Aber eine nachhaltige Wirkung auf Polizei und Politik wurde erst durch spätere politische Anschläge entfaltet.