Eine Frau berichtet, wie sie und ihre Familie die Silvesternacht 2015/2016 vor zehn Jahren in Köln erlebt haben.
Silvesternacht 2015Eine Betroffene erzählt ihre Geschichte: „Das hat mich traumatisiert“

Tatort Bahnhofsvorplatz: In der Silvesternacht 2015/2016 wurden hier die meisten Straftaten verübt.
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„Ich weiß nicht, ob ich mich noch an alles erinnere.“ Das sagt Claudia Ewald, als wir sie bitten, uns ihre Erlebnisse der Silvesternacht 2015/2016 zu schildern. Zehn Jahre seien doch eine lange Zeit. Doch als sie anfängt zu erzählen, kommen alle Erinnerungen an diese Nacht zurück. Die Menschenmassen. Die rote Zipfelmütze. Die Frau mit der zerrissenen Kleidung. Das Knallen. Die Hand zwischen den Beinen. Die Tränen. Claudia Ewald atmet tief aus. „Ich merke immer noch die Anspannung, dieses Gefühl von damals. Das hat mich traumatisiert.“
Claudia Ewald heißt eigentlich anders. Sie kommt aus einer mittelgroßen Stadt im Saarland und möchte in diesem Artikel nicht wiedererkannt werden. Vor zehn Jahren ist sie 47 Jahre alt. Ihr ältester Sohn ist 25, er wohnt damals in Euskirchen. Claudia Ewald beschließt, mit dem jüngeren Bruder, damals elf, über den Jahreswechsel zu ihm zu fahren. Denn es ist nicht nur Silvester: Der 31. Dezember ist auch der 25. Geburtstag ihres Sohnes. „Für uns alle immer ein besonderer Tag“, sagt Claudia Ewald.

Zahlen zur Silvesternacht
Copyright: Grafik: Harald Woblick, Foto: Thomas Banneyer
Am Vormittag fahren sie im Saarland los, zweieinhalb Stunden dauert die Fahrt nach Euskirchen. Später geht es mit der Regionalbahn weiter, Sekt, Gläser und Raketen haben sie dabei. Um Mitternacht wollen sie das Feuerwerk in Köln anschauen. „Wir waren alle Feuer und Flamme“, erinnert sie sich. Sie sind zu viert, sie, ihre beiden Söhne und die damalige Freundin ihres Sohnes, ebenfalls 25 Jahre alt. Den ersten Zug verpassen sie, zwischen 23 und 23.30 Uhr kommen sie am Kölner Hauptbahnhof an. „Auf dem Bahnsteig war’s schon sehr voll, aber damit hatten wir gerechnet.“ Auch am Haupteingang ist ein wahnsinniges Gedränge. „Es ging nicht weiter. Die Polizei hatte die Türen zugemacht zur Domplatte.“
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Ihr älterer Sohn drückt sich noch durch die Türen. Er ist zwei Meter groß und trägt eine rote Zipfelmütze. Doch in diesem Moment verlieren sie sich. Die Freundin des Sohnes weiß, dass es rechts noch einen Ausgang gibt. Zu dritt drängen sie sich an den Schließfächern vorbei und sind endlich draußen. Ab diesem Moment beginnt ein Alptraum für die Familie. „Wir waren mitten im Gewimmel. Die ersten Menschen wurden schon panisch. Und dann habe ich gesehen, dass eigentlich nur Menschen mit dunkler Haut und dunklen Haaren um uns herum sind.“
Ich habe immer wieder geschrien: ‚No‘ und ‚Stop! Don’t touch my children‘. Ich war so unter Adrenalin, dass ich dachte, wenn jetzt noch einer kommt, den schlag’ ich tot.
Sie halten Ausschau nach der roten Zipfelmütze. Das Handynetz ist überlastet, die Geräte zeigen keinen Empfang an. Ihren elfjährigen Sohn drückt Claudia Ewald in der Enge fest an sich, doch er gerät in den Fokus der Männer auf dem Platz. „Er hatte schon immer sehr auffällige, braune Locken. Sie haben ihm in die Haare gegriffen, seinen Kopf gestreichelt“, erinnert sie sich. Das Kind ist verängstigt und wie versteinert. „Ich habe immer wieder geschrien: ‚No‘ und ‚Stop! Don’t touch my children‘. Ich war so unter Adrenalin, dass ich dachte, wenn jetzt noch einer kommt, den schlag’ ich tot.“
An den Moment um Mitternacht, an dem sie sich eigentlich vor der Kulisse des Doms in den Armen liegen und sich ein frohes neues Jahr wünschen wollten, erinnert sich Claudia Ewald nicht mehr. „Diesen Moment gab es gar nicht.“ Dann explodiert ein Feuerwerkskörper direkt neben ihnen, Claudia Ewald spürt einen brennenden Schmerz. Später wird sie sehen, dass sie eine Verbrennung an der Wade hat. Sie finden den älteren Sohn wieder, seine rote Zipfelmütze taucht plötzlich vor ihnen auf. Das Geburtstagskind. „Er war auch total verängstigt und wollte nur noch weg.“
Die Jungen haben beide geweint, ich stand völlig neben mir. Ich hatte große Angst um die Kinder.
Sie bahnen sich einen Weg durch die Menge. Dann sehen sie die Frau. „Sie war noch ganz jung. Sie stand an der Seite, sie hatte zerrissene Kleider und war völlig aufgelöst.“ Ein Mann hatte sie niedergeworfen und sich auf sie gestürzt. „Sie sagte, sie sei von ihrem Freund getrennt worden und dann an der Brust berührt worden. Sie hat nur noch geweint und geschrien.“ Sie begleiten sie zum Container, in dem 2015 die Bundespolizei untergebracht ist, dann gehen die vier weiter.
„Während wir in Richtung Rheinufer gelaufen sind, hat es neben uns geknallt wie im Krieg“, sagt Claudia Ewald. „Wir dachten aber, dort sind wir sicher.“ Doch was dann folgt, traumatisiert die ganze Familie. Sie gehen hinter dem Museum Ludwig die Treppen runter zum Rhein. „Da sind uns schon Tausende entgegengekommen“, sagt die 57-Jährige. Gleichzeitig sind auch sie in einer Menschenmasse, die sich vorwärts schiebt. Dann greift jemand in diesem Strom von Menschen der Freundin ihres Sohnes zwischen die Beine. „Man sah kein Gesicht, nur diese Hand.“ Dann ist der Moment vorbei. „Aber dieses Bild werde ich nie vergessen.“ Am Rhein ist es laut, Raketen fliegen unkontrolliert. „Die Jungen haben beide geweint, ich stand völlig neben mir. Ich hatte große Angst um die Kinder.“ Die Freundin bleibt ruhig, behält den Überblick. „Das hat uns gerettet.“
Ich bin zwar selbst nicht angefasst worden, aber ich habe trotzdem ein Trauma behalten.
Vor einer Kneipe in der Altstadt steht ein Kellner vor der Tür und raucht. „Es war eine geschlossene Gesellschaft, aber ich habe trotzdem gefragt, ob wir reinkönnen.“ Während sie fragt, laufen ihr die Tränen über das Gesicht, der kleine Sohn hält sich die Ohren zu. „Der Keller sagte: ‚Sie können so lange bleiben, wie sie wollen‘. Ich bin ihm heute noch dankbar.“ Zwei Stunden warten sie in der Kneipe, bis sie am Musical Dome vorbei zurück zum Bahnhof gehen und den Zug zurück nach Euskirchen nehmen.
„Ich hab in der Nacht gar nicht geschlafen“, erinnert sich Claudia Ewald an die Silvesternacht vor zehn Jahren. „Ich bin zwar selbst nicht angefasst worden, aber ich habe trotzdem ein Trauma behalten.“ Große Veranstaltung meidet sie seitdem. „Wir sind den Weg zwei Jahre später noch mal abgelaufen, quasi als Konfrontationstherapie. Das hat uns geholfen.“ An Silvester würde sie nie mehr nach Köln kommen.


