Rundschau-Debatte des TagesIst der Asylkompromiss zu viel für die Grünen?

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Auch Ricarda Lang machte ihre Ablehnung öffentlich deutlich.

Auch Ricarda Lang machte ihre Ablehnung öffentlich deutlich.

Atomstreit, Lützerath, Waffenlieferungen: Als Regierungspartei mussten die Grünen schon einige bittere Pillen schlucken. Ist der EU-Asylkompromiss eine zu viel?

Mit solcher Erbitterung haben die Grünen lange nicht mehr öffentlich gestritten. Die Einigung der EU-Staaten auf eine Verschärfung der Asylverfahren spaltet die Partei – oder besser gesagt: die Zustimmung des eigenen Führungspersonals zu dieser Reform, ohne die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) den Kompromiss in Luxemburg nicht hätte unterstützen können. „Die deutsche Zustimmung war falsch“, sagt der Grünen-Außenpolitiker Jürgen Trittin der „Rheinischen Post“. „Europas Flüchtlingspolitik wurde auf ein Niveau der Schäbigkeit harmonisiert.“

Vorgesehen in den nun vereinbarten Reformplänen ist insbesondere ein deutlich härterer Umgang mit Migranten aus Ländern, die als relativ sicher gelten. Zudem soll es mehr Solidarität mit den stark belasteten Mitgliedstaaten wie Italien an den EU-Außengrenzen geben. Sie soll künftig nicht mehr freiwillig, sondern verpflichtend sein. Länder, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, würden zu Ausgleichszahlungen gezwungen werden. Mit dieser Position gehen die EU-Staaten nun in die anstehenden Verhandlungen insbesondere mit dem Europaparlament – endgültig beschlossen ist noch nichts.

Nachwuchs sieht „Ideen von Nazis“

Das schmälert allerdings nicht die Verantwortung der Grünen für diesen Zwischenschritt. „Wer glaubt, Rechte & Nazis zu schwächen, indem man deren Ideen europaweit umsetzt, irrt gewaltig“, schreibt der Co-Chef der Nachwuchsorganisation Grüne Jugend, Timon Dzienus, am Freitag auf Twitter. „Wer den menschenfeindlichen Ideen hinterherläuft, macht Rechte und Nazis damit stärker.“ Der Vorsitzende des Europaausschusses des Bundestags, Anton Hofreiter, lässt im Redaktionsnetzwerk Deutschland wissen: „Angesichts des höchst problematischen Asylkompromisses muss man von der gesamten Grünen-Führung jetzt erwarten, dass sie ihr Möglichstes tut, damit die Asylrechtsverschärfung in dieser Form nicht kommt.“

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Dass konflikterprobte und erfahrene Politiker wie Trittin und Hofreiter mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg halten, ist Routine. Und klare Kante ist Teil des Stellenprofils bei Führungsjobs in Partei-Nachwuchsorganisationen. So nennt die Chefin der SPD-Jusos, Jessica Rosenthal, die Ergebnisse des Ministertreffens im „Spiegel“ „beschämend“.

Doch selbst die beiden Parteichefs Ricarda Lang und Omid Nouripour machen ihre Ablehnung (Lang) und Zustimmung (Nouripour) schon kurz nach dem Beschluss in Luxemburg öffentlich, auch die Fraktionsvorsitzenden Katharina Dröge und Britta Haßelmann positionieren sich unterschiedlich. Die Führung gibt keine Linie vor, jenseits des frommen Wunsches nach Dialog und Respekt für die Position der anderen in einer zutiefst schwierigen Gemengelage. Niemand jubelt bei den Grünen, selbst die Befürworter haben Bauchschmerzen.

Und so unzufrieden geht es weiter am Tag danach. „Diese Einigung bedeutet eine Verstetigung von Leid und Chaos“, sagt Filiz Polat, Migrationsexpertin der Grünen im Bundestag, den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Die harmonische Fassade der sonst so geschlossenen Grünen hat nicht nur Risse, sie ist, zumindest für den Moment, gar nicht mehr vorhanden. Die Stimmung in der Partei wird als wütend beschrieben. Doch das ist eine Momentaufnahme. Gut möglich, dass sich die Emotionen wie beim gestreckten Atomausstieg und dem Abriss des Dorfes Lützerath für den Kohleabbau beruhigen, die Grünen den Ärger am Ende hinter sich lassen. Wie es ausgeht, bleibt abzuwarten.

Es ist ein Konflikt, der die traditionelle Teilung der Partei in Fundi- und Realo-Flügel vertiefen könnte. Zwar ordnen sich die meisten der Grünen etwa im Bundestag einer der beiden Gruppierungen zu, große Streitigkeiten tragen sie entlang dieser Linien aber in der Regel nicht mehr aus. Als Parteichefs forcierten die heutigen Minister Annalena Baerbock und Robert Habeck einen gemeinsamen Kurs. Nun kursiert die Sorge, dass Ordnungslinien wieder zu tiefen Gräben aufbrechen könnten, zumal wenn eine Seite sich in der Entscheidung nicht wiederfindet – wie es hier für viele Linke der Fall ist.

Gerät Baerbock in den Strudel?

Viele der Unzufriedenen kritisieren Innenministerin Faeser. Nicht nur Trittin meint, sie habe den anstehenden Landtagswahlkampf in Hessen im Kopf gehabt, den sie für die SPD gewinnen will. Das ändert nur rein gar nichts daran, dass sich Faeser ohne die Zustimmung der Grünen mindestens hätte enthalten müssen. Es bleibt abzuwarten, ob die Kritik sich weiter an ihr und der Entscheidung entzündet – oder mit Baerbock einen der Stars im Kabinett erfasst. Sie gilt als eine der treibenden Kräfte innerhalb der Grünen für die Zustimmung.

Die Außenministerin streicht bei ihrem Besuch in Kolumbien am Donnerstag einen Teil ihres Programms, um in Videoschalten in Partei und Fraktion für den Kompromiss zu werben. „Kein Kompromiss hätte bedeutet, dass gar keine Geflüchteten mehr verteilt werden“, schreibt Baerbock am selben Abend in einem Brief an ihre Bundestagsfraktion, über den „Bild“ berichtet und der auch der Deutschen Presse-Agentur in Berlin vorliegt. „Dass Familien und Kinder aus Syrien oder aus Afghanistan, die vor Krieg, Folter und schwersten Menschenrechtsverletzungen geflohen sind, dauerhaft und ohne Perspektive an der Außengrenze festhängen.“

Es wird erwartet, dass der Kleine Parteitag am 17. Juni im hessischen Bad Vilbel zum Kristallisationspunkt für den Ärger rund um die Entscheidung wird. Es gibt einen Antrag des Vorstands zur Asylreform, der aber noch vor der Einigung in Luxemburg formuliert wurde und noch angepasst werden dürfte. Wenn ein Änderungsantrag eine Mehrheit fände, der den auch von Baerbock vertretenen Kurs der Zustimmung unter Schmerzen klar ablehnt, wäre die einstige Kanzlerkandidatin schwer beschädigt – und der tiefe Riss Beschlusslage. (dpa)

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