Das Thema Migration bestimmt den politischen Diskurs in Europa wie kaum ein anderes. Auch die Europäische Union sucht nach Wegen, ihre Grenzen effektiver zu schützen. Doch was ist der richtige Weg dafür? Dazu liefert EU-Kommissar Magnus Brunner Antworten
EU-Kommissar Magnus Brunner„Wollen Sie mit den Taliban verhandeln?“

EU-Kommissar Magnus Brunner
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Der Österreicher Magnus Brunner (ÖVP) spricht über die deutschen Grenzkontrollen, deren Vereinbarkeit mit EU-Recht und die Zukunft des Migrationspakts. Bringt GEAS jetzt die Wende in der europäischen Asylpolitik?
Herr Brunner, Rechtspopulisten profitieren vom Migrationsthema, obwohl die irregulären Grenzübertritte deutlich sinken. Warum dringt das in der Bevölkerung nicht durch?
Weil die Menschen immer noch das Gefühl haben, dass wir nicht die Kontrolle über das haben, was in Europa passiert. Das eine sind die Zahlen, die Gott sei Dank zurückgehen, letztes Jahr um mehr als 35 Prozent, dieses Jahr um über 20 Prozent. Aber aktuell gelten noch immer die alten Regeln. Während der Flüchtlingskrise 2015 haben wir als EU enorm viel Verantwortung übernommen, aber es gab keine Regeln, keine Kontrolle. Das System war nicht auf die heutige Zeit anwendbar. Nun haben wir die Reform des EU-Asylsystems (GEAS) beschlossen, aber die Gesetze sind eben noch nicht in Kraft.
Wird GEAS wirklich die Zahl der Migranten reduzieren?
Es geht darum, das europäische Haus in Ordnung zu bringen. Wir verlagern die Asylverfahren an die Außengrenzen und schützen diese besser. Zudem wird es endlich ein System geben, durch das wir wissen: Wer hält sich in Europa auf? Wer muss Europa wieder verlassen? Es gab tatsächlich ein paar Punkte, die gefehlt haben, zum Beispiel Rückführungen. Es ist weder akzeptabel noch verständlich, dass wir nur eine von fünf Personen, die sich illegal in Europa aufhalten, rückführen können. Das soll durch die neue Rückführungsverordnung verbessert werden. Wir müssen differenzieren zwischen Straftätern oder solchen, die ein Sicherheitsrisiko darstellen, und anderen. Wichtig ist, dass wir das alles so schnell wie möglich umsetzen.
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Als Hauptgrund, warum die Zahlen gesunken sind, gelten die Abkommen mit Drittstaaten wie Tunesien. Im Juli wurden Sie von der ostlibyschen Regierung aus Bengasi geworfen. Kann man mit Libyen noch verhandeln?
Ja, und wir benötigen mehr solcher Abkommen mit Drittstaaten. Wir werden nur erfolgreich sein, wenn wir mit Ländern wie Libyen kooperieren. Es braucht eine Migrationsdiplomatie, wie wir sie nennen. Wenn wir über Handel reden, müssen wir immer auch Migration auf den Tisch legen. Mauretanien war etwa eines der größten Problemländer. Mittlerweile ist die Zahl der Menschen, die sich von dort auf den Weg nach Europa machen, wegen des Abkommens stark gesunken.
Wollen Sie mit den Taliban in Afghanistan verhandeln?
Ich verstehe, dass eine gewisse Skepsis herrscht. Aber sich nicht zu engagieren, bringt uns nichts. Es wäre ein großer Fehler. Spaß macht es keinen, mit Libyen zu verhandeln oder mit den Taliban auf technischer Ebene Gespräche zu führen. Aber es ist unsere Aufgabe. Wir akzeptieren ja nicht deren System. Möchten wir die Situation für die Europäer verbessern, dann müssen wir uns mit ihnen auseinandersetzen. Damit wird Afghanistan nicht automatisch zu einem sicheren Herkunftsland. Das ist auch bei Syrien nicht der Fall, obwohl wir beobachten, dass es in die richtige Richtung geht.
Macht sich die EU mit entsprechenden Abkommen nicht abhängig von autokratischen Regimes?
Wir haben als EU viel einzubringen, den Handel zum Beispiel oder die Visapolitik. Deshalb sollten wir unser Gegengewicht stärker nutzen. Jeder möchte ein Visum nach Europa haben, also müssen wir das als Gegendruckmittel auf den Tisch legen, also Migration verknüpfen mit Handel, mit Visapolitik, mit Entwicklungshilfe. Die Kooperation mit diesen Drittstaaten zu forcieren, ist für alle eine Win-Win-Situation.
Sie waren am Wochenende in München. Hatten Sie den Eindruck, es herrscht eine Notlage?
Sie spielen auf die Zurückweisungen und Grenzkontrollen an.
Ja, der Schengener Grenzkodex gibt Mitgliedstaaten nur in Ausnahmesituationen die Möglichkeit, bestimmte EU-Migrationsregeln nicht anzuwenden, wenn etwa die innere Sicherheit gefährdet ist.
Genau davon macht Deutschland Gebrauch. Ist das angenehm für Europa? Nein, natürlich nicht. Aber wir haben Verständnis für die deutsche Situation. Dabei ist es wichtig, dass die Kontrollen temporär sind und in Absprache mit den Nachbarstaaten.
Sind sie noch temporär? Oder an welchem Punkt ist Ihr Verständnis ausgereizt?
Wichtig ist, das Paket an Maßnahmen auf EU-Ebene schnell umzusetzen, damit die Binnengrenzkontrollen nicht mehr notwendig sind. Schengen ist eine der großen Errungenschaften, kann aber nur funktionieren, wenn die Mitgliedstaaten wieder das Vertrauen ins System haben. Wenn wir die EU-Außengrenzen besser schützen, brauchen wir innerhalb Europas keine Zurückweisungen mehr.
Kanzler Friedrich Merz bewertet diese „im Rahmen des bestehenden europäischen Rechts“. Ein Urteil des Verwaltungsgerichts in Berlin sieht das anders und liegt auf der Linie der herrschenden Meinung im Migrationsrecht und der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Würden Sie Ihre Hand dafür ins Feuer legen, dass die Praxis der Deutschen vereinbar ist mit EU-Recht?
Es ist individuell zu prüfen, was rechtlich möglich ist. Deutschland hat diesen Weg gewählt und Gerichte entscheiden, ob es rechtskonform ist oder nicht. Aber: Man kann nicht immer nur alles an Gerichte auslagern. Wenn wir die Regeln anders haben wollen, müssen wir den Richtern die Möglichkeit geben, anders zu urteilen, indem wir die Regeln verändern.
Bundesinnenminister Alexander Dobrindt fordert, dass die EU rasch die rechtlichen Möglichkeiten dafür schafft, um Rückführzentren möglichst nah an den Herkunftsländern aufzubauen.
Ich unterstütze den Vorstoß. Wir geben den Mitgliedstaaten mit unserer Rückführungsverordnung die Flexibilität und Möglichkeit, solche Zentren ins Auge zu fassen. Italien will sogenannte Return Hubs in Albanien, die Niederländer sind im Austausch mit Uganda. Aber damit die Mitgliedstaaten die Basis für solche innovativen Lösungen haben, muss zuerst die Verordnung so schnell wie möglich umgesetzt werden.
In Großbritannien ist das Ruanda-Modell mehrmals vor Gericht gescheitert.
Das war ein Zentrum, wo die Asylverfahren abgewickelt werden sollten. Hier geht es um Rückführzentren, die für Menschen vorgesehen sind, bei denen die Entscheidung bereits gefallen ist, wo es also einen negativen Asylbescheid oder einen positiven Rückführungsbescheid gibt.
Dann sitzt ein in Deutschland abgelehnter Asylbewerber aus dem Senegal in Uganda fest?
Ja. Es wäre ein enorm wichtiges Signal an die Welt: Man kann nicht einfach in Europa bleiben. Und auf die Rückkehr wartet man eben nicht in Deutschland oder in den Niederlanden, sondern zum Beispiel in Uganda.
Sieht so der neue harte Kurs der europäischen Flüchtlingspolitik aus? Humanitäre Töne sind in der Debatte kaum noch zu vernehmen.
Menschenrechte und internationales Recht müssen natürlich eingehalten werden. Aber man muss unterscheiden zwischen einerseits illegaler Migration, die wir bekämpfen, indem wir das Geschäft der Schlepper zerschlagen. Das zweite ist die legale Migration, die wir für unsere Arbeitsmärkte brauchen. Der dritte Teil ist das Asylwesen. Wenn jemand Anspruch auf Asyl hat, weil er in seinem Ursprungsland mit dem Tod bedroht wird, haben wir selbstverständlich die Pflicht zu helfen. Nur werden Asyl und illegale Migration leider zu oft vermischt.
Länder wie Deutschland suggerieren einen harten Kurs. Dabei sind Zurückweisungen nicht verantwortlich für den Rückgang der Flüchtlingszahlen.
Ich verstehe, dass die Regierungen strenger agieren wollen, als es vor ein paar Jahren noch der Regelfall war. Jeder steht gefühlt unter Druck. Deswegen ist es wichtig, die Botschaft auszusenden, dass es schwieriger sein wird, illegal in die EU zu kommen. Das spricht sich auch herum. Gleichzeitig ist die Migrationswende auf europäischer Ebene eingeleitet. Weil Populisten und Extremisten mit diesem Thema spielen, müssen wir ihnen mit sachlichen Maßnahmen den Wind aus den Segeln nehmen.