Wenn die Stadt zum Labyrinth wirdWie die blinde Marisa Sommer durch Köln manövriert
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Marisa Sommer: Ob Werbeaufsteller, abgeflachter Bordstein, Mülleimer oder Außengastronomie – für Blinde kann die Stadt schnell zum Labyrinth werden.
Copyright: Belibasakis
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Marisa Sommer weiß sehr gut, mit ihrer Blindheit zu leben.
Doch an vielen Stellen könnte den knapp 1000 blinden Menschen in Köln der Weg durch die Stadt erleichtert werden.
Das fiel unserem Autor sofort auf, als er Sommer begleitete. Dauernd neue Schrammen sind Teil ihres Lebens.
Köln – Wenn Marisa Sommer in der Stadt unterwegs ist, dann kann das schon mal schmerzhaft sein. An einer Bahnhaltestelle kracht es plötzlich. Die zierliche Frau bleibt mit voller Breitseite an einem Mülleimer hängen. Kurz verzieht sie das Gesicht, dann geht es weiter. „Ganz normal“, sagt sie mit einem Lächeln. „Das ist mein Alltag.“
Marisa Sommer ist blind und damit laut den aktuellsten Zahlen von 2017 eine von 966 Blinden in Köln. Gut 3200 Kölner haben eine Sehbehinderung. Eine seltene Autoimmunkrankheit, bei der der Körper die Augen nicht mehr als zugehöriges Organ erkennt, nahm der 57-Jährigen vor 14 Jahren für immer das Licht. Heute lebt sie völlig selbstständig. Die Tochter ist erwachsen geworden und ausgezogen, der Freund ab und zu da. Die stetigen Mitbewohner: Zwei Alexa-Sprachroboter.
Lieblings-Eiscafé ist reinste Stolperfalle
Solche Kollisionen kommen täglich vor. Der Blindenstock, den Marisa Sommer liebevoll Herrn Weißstock nennt, stößt unter Hüfthöhe auf keinen Widerstand. Als es kracht, ist es zu spät. „Ein einfacher kleiner Ständer würde ausreichen, um solche Unfälle zu verhindern“, sagt Sommer. „Die Alternative wäre, dass ich zuhause auf dem Sofa sitze und warte, bis ich alt bin. Wenn ich ein Eis essen will, dann mache ich das. Völlig egal, ob ich danach einen blauen Fleck mehr oder weniger habe.“ Aber auch Sommers Lieblings-Eiscafé auf der Neusser Straße ist die reinste Stolperfalle für Blinde. Das Vorbeigehen an den zwei Reihen aus Tischen und Stühlen dauert über eine halbe Minute.
Um sich in der Stadt fortzubewegen, orientieren Blinde sich an der sogenannten inneren Lauflinie. In den meisten Fällen sind das Hausfassaden. So lange es geradeaus geht und die Wand nicht blockiert ist, bewegt sich Marisa Sommer fast genauso schnell wie ein Sehender voran. Doch alle paar Meter tun sich Stolperfallen auf. Massive und gleichmäßige Hindernisse wie Stromkästen sind kein Problem, sie sind schnell umkurvt. „Viel schlimmer als alles andere sind Werbe-Aufsteller vor Geschäften“, erklärt Sommer. Wenige Meter später bestätigt sich die Aussage. Bevor „Herr Weißstock“ das Hindernis erkannt hat, kommt es zur Kollision mit dem Aufsteller. Der nächste blaue Fleck am Knie. Egal, weiter geht’s.
„Einfach ansprechen und fragen“
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Wenn es nach den Richtlinien der Stadt geht, muss zwischen Hauswand und Bestuhlung 1,50 Meter Platz sein. Dass der Abstand nicht eingehalten wird, ist keine Ausnahme. „Die Restaurants könnten ihre Außengastronomie ganz einfach durch Blumenkästen oder sonstige Markierungen abgrenzen. Das würde uns extrem helfen.“ Dass die Stadt für die Außengastronomie nur noch Konzessionen für ein Jahr vergibt, könnte auf den ersten Blick als Erfolg für Rollstuhlfahrer oder Blinde eingestuft werden. Schließlich kann so in kurzen Abständen immer wieder überprüft werden, ob sich Gastronomen an die Regeln halten, die eben auch für Menschen wie Marisa Sommer gemacht wurden. Von einem Konflikt zwischen Gastronomen und Blinden möchte Sommer allerdings nichts wissen. „Das wird nicht viel ändern. Außerdem sitze ich ja auch gerne in meinem Eiscafé.“
Eine verstärkte Kommunikation würde sich Sommer dennoch wünschen. Das würde in vielen Fällen einiges erleichtern. Schlimmer sei ohnehin, dass die Regeln für Werbeaufsteller lockerer sind. Die sind laut Stadt nicht genehmigungspflichtig. Vorausgesetzt, sie lassen mindestens 1,50 Meter Platz auf dem Gehweg.
Rücksichtslose Radfahrer
Als vor kurzem eine Kreuzung nahe ihrer Wohnung erneuert wurde, konnte Sommer es kaum fassen, als sie vom Ergebnis erfuhr. „Auf einmal waren die Bordsteine an den Ampeln auf Null herabgesetzt, das ist für Blinde lebensgefährlich.“ Bei der Demonstration auf der Neusser Straße wird das schnell deutlich. Wo die Kante des Bürgersteigs ist, können Blinde nicht ertasten. Als Sommer bemerkt, dass sie sich mitten auf der Straße befindet, ist es zu spät. Doch auch die herabgesenkten Bordsteine haben ihren Sinn. „Rollstuhlfahrer freuen sich darüber, für Sehbehinderte ist das natürlich gefährlich“, erklärt ein Stadtsprecher. Zum Glück passen die Autofahrer in diesem Fall auf. Andere Verkehrsteilnehmer sind da schlimmer. „Fahrradfahrer sind mit Abstand die Rücksichtslosesten“, beschwert sich Sommer. „Zum einen, weil sie ihr Fahrrad überall ohne nachzudenken in den Weg stellen. Zum anderen, weil sie sich auch auf Bürgersteigen durch die Menge schlängeln.“
Blinde und Sehbehinderte Menschen werden in Köln nicht komplett allein gelassen. Es gibt Hilfen, die jedoch nicht flächendeckend Anwendung finden. Akustische und taktile Ampelelemente sind in Köln nur an großen Kreuzungen und Plätzen zu finden. Ein Blindenleitsystem gibt es auf öffentlichen Plätzen und auch in unterirdischen KVB-Stationen. „Wenn es Leitsysteme gibt, dann sind sie oft so aufgebaut, dass sie Blinde gar nicht oder erst viel zu spät finden“, bemängelt Sommer. Ein Beispiel ist die Haltestelle „Neusser Straße/Gürtel“. Um die Treppe hinab zur Station zu finden, gibt es keine Hilfe und keine Orientierungspunkte. Ist die Treppe überwunden, irrt Sommer um zwei Ecken, erst danach beginnt das Leitsystem. „Viel zu spät“, ärgert sie sich. Und dann das nächste Problem: „Wenn ich erstmal hier unten bin, wie soll ich denn erkennen, an welches Gleis ich muss?“ Verhindern soll solche Probleme eigentlich der Arbeitskreis „Barrierefreies Köln“, in dem auch Vertreter von Blindenvereinen und -verbänden sitzen. Wenn neue Blindenleitsysteme implementiert werden, ist der Arbeitskreis in die Planungen involviert. Vor ein paar Jahren entwickelte die Stadt gemeinsam mit dem Arbeitskreis Standards für Baumaßnahmen in der Stadt, die seitdem angewendet werden. Alle zufriedenstellen können die laut Stadt „besten Lösungen und Kompromisse“ dennoch nicht immer.
An jeder Ecke neue Überraschungen
In diesem Fall hilft nur, Passanten um Hilfe zu bitten. Das klappt erfahrungsgemäß ohne Probleme, auch wenn einige Menschen Berührungsängste haben . „Einfach ansprechen und fragen. Und wenn keine Hilfe gewünscht ist, in Ruhe lassen“, lautet der erste Schritt. Die beste Variante um einen Blinden zu führen: Den rechten Arm zum Einhaken anbieten und schon geht es ganz einfach voran. Und wenn es eng wird, niemals den Blinden vorschicken, sondern selbst voran gehen. Am Gleis angekommen, leistet das Leitsystem wieder gute Arbeit und zeigt Blinden sogar an, wo sich die Türen der Bahn befinden. Das klappt manchmal besser, manchmal schlechter. Mit der Bahn kann Sommer ohne Probleme ohne Begleitung fahren.
Doch eines würde ihr das Leben mehr als alles andere erleichtern: Ihr letzter Blindenhund, ihr geliebter Paul, hat auf einem Foto einen Ehrenplatz in Sommers Wohnzimmer. Vor einigen Jahren musste er eingeschläfert werden. Seitdem hat es noch nicht mit einem geeigneten Nachfolger geklappt.
Das Leben als Blinde ist auch in einer Stadt wie Köln nicht leicht. An jeder Ecke lauern im sich ständig wandelnden Umfeld neue Überraschungen, die jederzeit für große Gefahr sorgen können. Auch weil Blinde und Sehbehinderte eine sehr kleine Minderheit sind, kann es die Stadt ihnen nicht an allen Stellen Recht machen. Die Kommunikation zwischen Stadt und den Blinden ist der erste Schritt zur Besserung, doch oft müssen Kompromisse her, die nicht zufriedenstellend helfen. Aber auch die Kommunikation im Veedel kann Besserung bringen. Wenn Geschäfte wissen, dass nebenan ein Blinder lebt, können vielleicht andere Lösungen als immer verschieden platzierte Werbe-Aufsteller gefunden werden.
Doch trotz aller Probleme ist Marisa Sommer glücklich. Das Augenlicht vermisst sie nicht. „Dass ich blind bin, hat mir so viel gegeben. Ich nehme alle anderen Sinne viel stärker wahr und ganz wichtig: Ich kann Menschen ohne Vorurteile entgegentreten. Das ist viel wert.“ Wenn Sommer die Wahl hätte, zwischen blind bleiben und wieder sehen können – sie würde alles so lassen, wie es jetzt ist.