Kölner Staatsanwalt„Wir müssen von organisierter Gewalt gegen queere Menschen ausgehen“

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Eine Person zeigt die Regenbogen-Fahne bei einer Demonstration in Buenos Aires am 5. November 2022. (AP Photo/Natacha Pisarenko)

Unter der Regenbogen-Fahne kämpfen queere Menschen weltweit für ihre Rechte. Foto: Natacha Pisarenko/AP

Der Kölner Oberstaatsanwalt Ulf Willuhn rechnet mit einer hohen Dunkelziffer von Straftaten gegen Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität. Er spricht sogar von organisierter Gewalt. Im Interview mit Anica Tischler erklärt er, wie seine Behörde dagegen vorgehen will.

Herr Willuhn, diese Anlaufstelle in Köln ist neu und in NRW bisher einzigartig. Ist damit jetzt direkt eine ganze neue Abteilung entstanden?

Nicht ganz. Straftaten und Gewalttaten gegen Menschen der queeren Community fielen immer schon in unseren Zuständigkeitsbereich. Ich bin jetzt noch zusätzlich der direkte Ansprechpartner für diese Fälle. In unserer Abteilung für politische Strafsachen reden wir von Straftaten, die aufgrund einer ideologischen Gesinnung begangen wurden. Da gehören Rechtsextremismus und Linksextremismus im engeren Sinne dazu, aber auch die Kategorie von Straftaten, die wir statistisch erfassen als „Straftaten gegen Personen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung“.

Warum dann diese spezielle Anlaufstelle mit Ihnen als Ansprechpartner?

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Uns ist aufgefallen, dass wir wenig Anzeigen aus dem Bereich kriegen, und das obwohl wir in Köln eine aktive und zahlenmäßig große queere Gemeinschaft haben. In Studien der EU heißt es, dass statistisch etwa fünf Prozent der Community im Jahr Gewalterfahrungen erleben, die sie aufgrund ihrer Queerness zu erleiden haben. Umgerechnet auf Köln und Umgebung sind das bei etwa 200 000 Menschen laut der EU-Studie 10 000 Anzeigen an Gewalttaten pro Jahr, mit denen wir zu rechnen hätten. Im Jahr 2021 haben wir aber nur 36 Ermittlungsverfahren in dem Bereich geführt. Im laufenden Jahr sind wir bei etwa 20. Das Dunkelfeld der Straftaten erschien uns sehr groß und deshalb haben wir gesagt, da möchten wir ansetzen.

Unser Ziel ist, dass mehr Straftaten zur Anzeige gebracht werden.
Oberstaatsanwalt Ulf Willuhn

Was sind Ihre ersten Schritte in der Abteilung?

Was wir erst einmal vorhaben, ist uns als Anlaufstelle für Menschen der LSBTIQ*- Gemeinschaft sichtbar zu machen. Wir möchten sagen: Wir sehen das Problem. Mit den nächsten Schritten knüpfen wir Kontakte in die Community und mit öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Gespräche mit „rubicon“ haben wir bereits geführt, die Organisation leistet seit Jahren in Köln große und gute Arbeit als Beratung und Unterstützung für LSBTIQ*-Personen. Auch mit dem zuständigen städtischen Dezernat und dem Lesben- und Schwulenverband (LSDV) wollen wir Gespräche aufnehmen.

Und was wollen Sie erreichen?

Das Ziel ist, dass von der großen Dunkelziffer an Straftaten mehr zur Anzeige gebracht werden. Dafür müssen wir aber zunächst auf die Menschen zugehen. Wir möchten dabei besonders die Punkte angehen, die speziell uns Strafverfolgungsbehörden in einem unguten Licht erscheinen lassen. Dafür gibt es ja auch historische Gründe.

Welche sind das?

Man darf nicht vergessen, dass der Paragraf 175 des Strafgesetzbuches bis ins Jahr 1994 noch Homosexualität unter Strafe gestellt hat. Das heißt, bis vor nicht einmal einer Generation haben wir Staatsanwälte queere Menschen eher verfolgt als beschützt. Wenn man jetzt bis zur Zeit des Nationalsozialismus zurückgeht, da sind Zehntausende in Konzentrationslager gewandert. Das prägt ein kollektives Bewusstsein und zwar dauerhaft. Da möchten wir wieder mehr Vertrauen schaffen. Wir möchten also herausfinden, was können wir besser machen? Wo sind überhaupt die Schwierigkeiten?

Neben Misstrauen, welche Gründe gibt es dafür, dass Menschen sich möglicherweise nicht an die Justiz wenden wollen?

Der Strafprozess ist ein öffentliches Verfahren. Das führt allerdings dazu, dass sich Opfer von Gewalttaten praktisch ausnahmslos Retraumatisierungen aussetzen müssen, weil das Verfahren so angelegt ist, dass die Tat vor Gericht in allen Einzelheiten noch einmal dargelegt und besprochen werden muss. Das betrifft alle Betroffenen von sexueller Belästigung oder Vergewaltigung.

Wir werden diese Fälle nicht kleinkauen.
Oberstaatsanwalt Ulf Willuhn

Ich kann es daher niemandem verdenken, wenn sie sagen, „das tue ich mir nicht an.“ Jeder muss sich die Frage stellen, ob das, was sie durch einen Strafprozess gewinnen können, in einem angemessenen Verhältnis dazu steht, was sie ertragen müssen. Dabei sollte man aber die Bedeutung, dass der Täter seine Strafe bekommt, und die Betroffenen Genugtuung erfahren, auch nicht gering schätzen – das kann für die psychische Verarbeitung von Gewalterfahrungen sehr wichtig sein.

Bei einer Dunkelziffer von etwa 10 000 Straftaten könnte man fast an organisierte Gewalt denken.

So ist es, davon müssen wir ausgehen. Es gibt Vorfälle von einem Christopher Street Day (CSD) in NRW, bei dem sich Menschen der rechtsextremen Szene bewusst und erkennbar mitten unter die Menschen gestellt haben, und dort Filmaufnahmen gemacht haben. Die haben sie im Internet veröffentlicht, um zu sagen „Wir haben euch im Auge.“ Das ist ganz klar organisiert und eine Form von Provokation, die wir mit Sorge betrachten.

Gibt es etwas, das Sie den Menschen der LSBTIQ*-Gemeinschaft direkt sagen möchten?

Wir werden diese Fälle und Anzeigen nicht kleinkauen. Niemand muss die Befürchtung haben, dass sie Anzeige erstatten und dann passiert rein gar nichts. Es gibt in der Justiz grundsätzlich die Möglichkeit, Verfahren beispielsweise aus Geringfügigkeitsgründen einzustellen. Bei dem Thema sage ich aber ganz klar: Wenn wir es mit ideologisch motivierten Straftaten zu tun haben, dann machen wir das nicht. (at)

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