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Ein Jahr nach dem Tod von Kurt BraunMehr Angriffe auf Mitarbeiter der Stadt Köln

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In diesem Haus in Dünnwald wurde Kämmerei-Mitarbeiter Kurt Braun vor einem Jahr erstochen.

Köln – Sie werden beleidigt, bedroht und körperlich angegriffen. Immer wieder erleben Mitarbeiter der Stadt Köln im Außendienst und in Büros mit Publikumsverkehr verstörende und gefährliche Situationen. Nach dem tödlichen Angriff auf den Kämmerei-Mitarbeiter Kurt Braun, der sich an diesem Sonntag jährt (siehe Kasten), hat die Stadt ein neues Melderegister eingeführt. Es soll helfen, solche tragischen Fälle künftig zu vermeiden. Antworten auf wichtige Fragen.

Worum geht es genau?

Das „Zentrale Melde- und Auskunftssystem bei Gefährdungen“, kurz ZeMAG, soll städtische Mitarbeiter   vor potenziell gewalttätigen Personen warnen, unter Wahrung des Datenschutzes. Es ging Ende April 2020 in Betrieb – als erste Datenbank dieser Art in Deutschland.

Wie funktioniert ZeMAG?

Analog zu den Gefährdungslagen des „Aachener Modells“ werden Übergriffe in vier Kategorien eingeteilt (siehe Kasten). In ZeMAG erfasst werden alle Vorfälle ab Stufe 2 (Sachbeschädigung, Bedrohung etc.). Dabei handelt es sich um Vorfälle, bei denen ausnahmslos Strafanzeigen gestellt werden. Beleidigungen werden nicht registriert, aber ebenfalls angezeigt.

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Wer hat Zugang zu ZeMAG?

Alle der mehr als 20 000 Mitarbeiter der Stadt können Einträge im System vornehmen und einen Übergriff melden. Die Vorgesetzten müssen  die Eingabe freigeben, sie veranlassen auch die Strafanzeige. Rund 4000 Bedienstete sind bislang berechtigt, aus ZeMAG Auskünfte über potenziell  gefährliche Personen einzuholen, darunter Mitarbeitende von Sozial- und Jugendamt, Ordnungsamt, Rettungsdienst und Kämmerei.

Wie viele Vorfälle wurden registriert?

Bisher 92 Fälle. Davon sind 46 „Altfälle“, sie stammen aus den zwölf Monaten, bevor das System Ende April gestartet ist. Das bedeutet: In nur gut sieben Monaten wurden von Mai bis Anfang Dezember weitere 46 Fälle aktenkundig – die Zahl der Angriffe ist also gestiegen. „Das ist im Verhältnis sehr viel, wir waren selbst überrascht“, sagt Dolores Burkert.

Fall Kurt Braun und „Aachener Modell“

Er ahnte nicht, was ihn erwartete. Am Freitag, 13. Dezember 2019, will Kämmerei-Mitarbeiter Kurt Braun (47) in Dünnwald gemeinsam mit einer Kollegin offene Geldforderungen der Stadt in Höhe von 387,80 Euro eintreiben.  Was er nicht weiß: Der Schuldner Clemens K. (61) ist psychisch krank. Er hat schon am 6. März 2019 eine Mitarbeiterin des Sozialdezernats mit einem Schraubendreher verletzt. Doch diese Information wurde  in  der Stadtverwaltung nicht weitergeben, Braun und seine Kollegin sind ohne Polizeischutz unterwegs.  K. zieht ein Messer  und sticht es  Braun ins Herz. Vor Gericht beruft er sich auf Notwehr, er wird zu dauerhafter Einweisung in die Psychiatrie verurteilt.

Der Tod von Kurt Braun sorgt bundesweit für Entsetzen und führt dazu, dass   die Stadt ein neues Melderegister einführt („ZeMAG“).  Es orientiert sich an den vier Gefährdungsstufen des  „Aachener Modells“. Stufe Null umfasst kontroverse  Gesprächssituationen, die in Eigenverantwortung der Beschäftigten gelöst werden. Zu Stufe eins zählen Belästigungen und Beleidigungen, hier können sich die Mitarbeiter Hilfe durch Dritte oder Vorgesetzte holen.

Ab Stufe zwei (Sachbeschädigung, Bedrohung, Nötigung und körperliche Gewalt) werden die Vorfälle in ZeMAG erfasst. Hier muss die Sicherheit durch  professionelle Sicherheitskräfte oder  die Polizei sichergestellt werden. Stufe drei umfasst zusätzlich den Einsatz von Waffen und Werkzeugen, Bombendrohung, Amoklauf, Geiselnahme und Überfall. Hier muss die Gefahrenabwehr zwingend  durch die Polizei erfolgen. (fu)

Sie leitet das 2019 gegründete „Zentrum für Kriminalprävention und Sicherheit“, eine Kooperation von Stadt und Polizei, die auch das ZeMAG-System betreut. Erfasst wurden bisher 80 Fälle der Stufe 2, darunter sieben Mal Sachbeschädigung, 55 Mal körperliche Gewalt, 55 Mal Bedrohung und neun Mal Nötigung. Hinzu kommen zwölf Fälle der Stufe 3, bei denen Angreifer Waffen oder Werkzeuge einsetzten. Die hohe Zahl der einzelnen Delikte resultiert aus Mehrfachnennungen – zum Beispiel Sachbeschädigung und körperliche Gewalt.

Welcher Art sind die Angriffe?

Das Aggressionspotenzial ist mitunter enorm. Einem städtischen Bediensteten wurde mit einer vollen Getränkedose ins Gesicht geschlagen, eine andere Mitarbeiterin in ihrem Büro mit einer schweren Schale attackiert. In einem Fall fuhr jemand mit einem Auto gezielt auf einen Ordnungsdienstmitarbeiter zu, er rettete sich durch einen Sprung zur Seite. Besonders perfide ging jemand vor, der einer städtischen Kraft nachspionierte, sie auf der Autobahn mit einem Wagen verfolgte und bedrängte.

Wer sind die Täter?

„Im Wesentlichen sind es Menschen, die mit Maßnahmen und Entscheidungen der Stadt nicht einverstanden sind und ihren Aggressionen freien Lauf lassen, etwa bei Corona-Kontrollen oder in Amtsräumen“, erläutert Burkert. 90 Personen seien derzeit in ZeMAG als gefährlich registriert. Angriffe stelle man verstärkt bei Ordnungsdienstkontrollen, Vollstreckungen oder Inobhutnahmen von Kindern fest. Betroffene  leiden  oft nicht nur physisch, sondern auch psychisch, sie erhalten  psychologische Unterstützung.

Hat ZeMAG bereits  Personal vor Gefahren gewarnt?

Ja, sagt die Stadt. „Derzeit ist es so, dass Mitarbeiter vor anstehenden Hausbesuchen eine Systemabfrage starten können, um zu sehen, ob von aufzusuchenden Personen möglicherweise Gefahr droht. Künftig sollen bei den Namenslisten entsprechende Hinweise automatisch generiert werden“, so Burkert. Weitere Schutzmaßnahmen: Mitarbeiter werden im Umgang mit Gefahrensituationen geschult, an ihren Arbeitsplätzen werden Alarmschalter installiert.

Wie ist bisher die Resonanz?

„ZeMAG wird stark genutzt. Alle Dienststellen haben verinnerlicht, dass dieses Register Leben retten kann“, betont Burkert. Köln erhalte auch viele Anfragen aus anderen Kommunen, die das System einführen wollen.

Was sind die nächsten Schritte?

„2021 wollen wir eine mobile Version von ZeMAG an den Start bringen. Damit kann man direkt vor Ort eine Meldung auslösen“, so Burkert. Wichtig sei auch, eine „spezialgesetzliche Rechtsgrundlage“ für dieses System zu schaffen. Die fehlt bisher. Die Stadt wünscht sich klare Regeln. Derzeit leitet sie das Recht, Daten gefährlicher Personen zu speichern, davon ab, dass für ihre Mitarbeiter eine Gefahr für Leib und Leben besteht. „Köln will eine Initiative starten mit dem Ziel, auf Landesebene einen entsprechenden Gesetzesrahmen zu beschließen“, so Burkert. Zurzeit werden die erfassten Daten bei Sachbeschädigung nach einem Jahr gelöscht, bei den anderen Fällen nach zwei Jahren.