Ulrich Fischer (53) leitet seit Juli das Kölner Stadtarchiv. Im Interview spricht er über die Bedeutung von Archiven, die Digitalisierung und die Folgen des Einsturzes.
Neuer Leiter Ulrich Fischer„Kölns Stadtarchiv war niemals wichtiger als heute“

Archivleiter Ulrich Fischer im Lesesaal des Stadtarchiv-Neubaus am Eifelwall.
Copyright: Nabil Hanano
Wie kamen Sie ins Stadtarchiv?
Vom Studium her bin ich Historiker mit Schwerpunkt Mittelalter. 2003 bis 2005 habe ich beim Land NRW ein Referendariat gemacht und wurde in den staatlichen Archivdienst übernommen. Und wäre nichts anderes passiert, wäre ich jetzt vermutlich irgendwo im Landesarchiv NRW tätig. Aber dann gab es eine Stellenausschreibung, in der man den stellvertretenden Leiter für das Historische Archiv der Stadt Köln suchte, damals verbunden mit dem Schwerpunkt Alte Abteilung, also mittelalterliche und frühneuzeitliche Überlieferung. Bei dieser Kombination konnte ich nicht nein sagen und habe mich beworben, obwohl ich mir damals als Berufsanfänger eigentlich überhaupt keine Chancen ausgerechnet hatte. Dann habe ich lange Zeit nichts mehr gehört.
Aber am Ende waren Sie erfolgreich?
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Eineinhalb Jahre später auf dem Archivtag hat mich Bettina Schmidt-Czaia, die kurz zuvor zur Leiterin des Kölner Archivs ernannt worden war, gefragt, ob ich meine Bewerbung aufrechterhalten würde, denn sie wäre jetzt dabei, die Stellen zu besetzen. Na klar, habe ich gesagt. Ich wurde genommen und musste dann meinem Chef erklären, dass ich nach Köln gehe. Er war nicht gerade erfreut.
Warum wollten Sie nach Köln?
Das hat vor allem mit den Beständen hier im Haus zu tun, die fürs Mittelalter und für die frühe Neuzeit ganz besonders sind. Das Kölner Stadtarchiv ist ohnehin ein Haus mit phänomenalen Beständen. Jetzt in der Kombination mit dem Rheinischen Bildarchiv noch viel mehr. Aber für mich, mit meinem Studienfokus auf dem Mittelalter, war es ein Sechser im Lotto. Mindestens.
In der Digitalisierung lag das Haus damals aber weit zurück.
Richtig. Meine Bedingung war: Ich komme nur, wenn ihr mir einen Computer mit Internetanschluss besorgt. Die gab es 2006 im Stadtarchiv nicht. Auch keine digitalen Verzeichnisse der Bestände, sondern nur analoge sogenannte Findbücher. Viele davon getippt, einige auch noch handschriftlich, alle fein gebunden. Wenn man darin fand, was man suchte, konnte man es sich in den Lesesaal bestellen. Die Kollegen hier waren sehr kompetent, was die lokale Geschichte und die Bestände anging. Aber eben völlig abgeschnitten von der Fachdiskussion. Es gab also viel zu tun für jemanden wie mich, der als junger Mensch mit 34 Jahren hier angefangen hat. Drei Jahre später dachten wir, wir sind auf einem guten Weg. Aber dann stürzte das Archiv ein.
Wie haben Sie den Tag erlebt?
Ich war selbst gar nicht in Köln, sondern auf Dienstreise nach Gütersloh. Auf dem Rückweg im Zug bekam ich einen Anruf vom Verwaltungsleiter, der sagte: Das Archiv ist eingestürzt. Ich wusste sofort: Das ist keine flapsige Bemerkung, sondern bitterer Ernst. Ich habe als Erstes gefragt: Sind alle raus? Er sagte: Ja, ich glaube schon. Im Internet überschlugen sich die Nachrichten.
Wie ging es weiter?
Ehemalige Kollegen riefen mich an und fragten: Stimmt das wirklich? Bei denen brachen Welten zusammen, weil sie dachten, es ist alles zerstört. Die Leistung ihres Arbeitslebens schien wie weggeblasen. Ein gestandener Kollege, der gerade erst in den Ruhestand gegangen war, hat am Telefon hemmungslos geweint. Das werde ich nie vergessen. In den Folgetagen stellte sich zum Glück heraus, dass wir viel Archivmaterial bergen konnten. Zusammen mit der Kollegin Nadine Thiel aus der Res-taurierung war ich von der Archivseite aus zuständig für alles, was die Bergung anging. Dieser Prozess hat zweieinhalb Jahre gedauert.
Wie viel wurde gerettet?
Wir haben tatsächlich mindestens 95 Prozent unseres Materials wieder. Wir wissen bloß immer noch nicht genau, was wir durch den Einsturz verloren haben. Dafür müssten wir bis zum letzten Papierschnipsel alles identifiziert haben. So weit sind wir noch lange nicht. Im Moment fehlen noch einzelne Archivalien aus allen Abteilungen. Zum Beispiel haben wir die berühmte Serie von etwa 550 Schreinsbüchern, also Grundbüchern seit dem hohen Mittelalter. Wenn mich nicht alles täuscht, fehlt eines davon. Es kann aber auch sein, dass wir es noch finden, insbesondere wenn es stark beschädigt worden ist oder seinen Einband verloren hat.
Es gibt also immer noch Kisten voller Schnipsel, von denen kein Mensch weiß, was da drin ist?
Ja. Und die wird es auch noch länger geben. Wir haben alle Kisten einmal aufgemacht und zumindest grob angeschaut. Was man identifizieren konnte, haben wir mittlerweile identifiziert und zugeordnet. Das größere Problem sind die Dinge, die wir bei diesem ersten Durchgang nicht genau identifizieren konnten.
Wie läuft die Restaurierung?
Zwei, drei Jahre nach dem Einsturz habe ich gedacht, es würde schneller gehen. Ich dachte, wir könnten mehr Dienstleister beschäftigen. Aber es gibt viel zu wenige Unternehmen am Markt, die große Mengen historischer Dokumente fachgerecht restaurieren können. Allein bei den Urkunden reden wir von über 60.000 Stück. Wir haben 30 Kilometer Archivgut, das in Unordnung ist, und ein großer Teil davon muss mindestens gereinigt werden. Das sind zehntausende Kartons. Für solche Mengen finden Sie am Markt niemanden. Wir reinigen und restaurieren viel selbst mit eigenem Personal und bekommen auch Hilfe von anderen Archiven. Aber die dritte, privatwirtschaftliche Säule, die eigentlich sehr stark sein sollte, ist mir viel zu klein. Es liegt nicht am Geld. Durch den Vergleich der Stadt mit den Baufirmen stehen Gelder für die Restaurierung bereit.
Wann sollen die Folgen des Einsturzes aufgearbeitet sein?
Nicht vor 2050, denke ich. Es hängt davon ab, was man sich als Endziel vorstellt. Für mich ist das relevanteste Ziel, dass unser Archiv vollständig benutzbar wird. Dafür müssen wir die vom Einsturz betroffenen Archivalien identifizieren und reinigen. Dieser Reinigung allein widmen wir uns im Haus mit ungefähr 40 Assistenzkräften und einem Großteil unserer 25 restauratorischen Fachkräfte. Wir sind gut darin, das Material, das im Lesesaal angefordert wird, entsprechend vorgearbeitet zu bekommen. Aber wir schaffen es bislang nicht, proaktiv ganze Bestände aufzuarbeiten.
Wie viel ist denn bislang fertig?
Von den vom Einsturz betroffenen Archivalien haben wir gut 20 Prozent gereinigt und wieder verfügbar. Gut zwei Drittel haben wir identifiziert. Das heißt umgekehrt, dass wir ein Drittel haben, von dem wir in unterschiedlichen Schichtungen von Genauigkeit am Ende nicht genau wissen, wo es herkommt. Da muss man noch viel Arbeit hineinstecken, um es vernünftig zuordnen zu können.
Kann Technik die Arbeit beschleunigen?
Wir haben mit technischen Verfahren zur Reinigung experimentiert, aber ohne Erfolg. Sie bekommen keine Technik, die ansatzweise so feinfühlig ist und auf das Material so eingehen kann wie unsere Kolleginnen und Kollegen. Für unsere Fragmente nutzen wir aber schon länger eine Mustererkennung, die uns hilft, einzelne Papierfetzen einander zuzuordnen. Das funktioniert gut, und hier verspreche ich mir in Zukunft weitere Fortschritte durch den Einsatz von KI.
Wie steht es um die vielen Mängel im Neubau des Archivs am Eifelwall, etwa bei der Sicherheit? Müssen Sie weiterhin rund um die Uhr Wachpersonal einsetzen? Fallen noch Deckenplatten herunter?
Wir haben eine funktionierende Einbruchmeldeanlage, auch die Deckenplatten wurden alle gesichert. Die Klimaanlage funktioniert. Es gibt aber noch Probleme mit den Sonnenschutzrollos. Das Gebäude ist nicht hundertprozentig mängelfrei. Die Gebäudewirtschaft der Stadt Köln, ist aber mit großem Einsatz dabei und hat sogar den alten Projektleiter reaktiviert, um die Mängel in den Griff zu bekommen.
Es gab Kritik, dass das Rheinische Bildarchiv (RBA) dem Stadtarchiv 2023 als Sachgebiet eingegliedert wurde, manche sagen sogar: untergeordnet wurde. Die frühere RBA-Leiterin wurde versetzt und hat das Haus verlassen. Was entgegnen Sie den Kritikern?
Die Kritik ist sehr still geworden und das mit Recht. Weil das Rheinische Bildarchiv weiter phänomenale Arbeit leistet. Mit Helena Weber hat es seit Januar 2024 eine großartige Sachgebietsleiterin, eine starke Verfechterin für die Sache des Bildarchivs. Das Rheinische Bildarchiv hat eine große eigene Bedeutung und auch eine eigene Aufgabe und es ergänzt ganz wunderbar die Sammlungstätigkeit im Historischen Archiv.
Welche Bedeutung hat ein Stadtarchiv in der heutigen Zeit?
Ein Stadtarchiv war niemals wichtiger als heute. Zumindest ein Archiv, wie wir es in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945 verstehen, nämlich als ein Garant von Transparenz, als eine Säule des Rechtsstaates, als eine Institution, die einen unverfälschten Blick in die Geschichte ermöglicht. Das kann für viele Beteiligte unangenehm sein. Aber das ist Teil unserer Aufgabe. Wenn man sich weltweit umsieht, stellt man fest, dass es ein Geschenk ist, wenn sich eine Gesellschaft ein unparteiisches Archivwesen leistet.
Wie wirkt sich die Digitalisierung auf Archive aus?
Die Nutzung ändert sich fundamental. Wir nutzen heute digital und wir suchen digital. Vor zehn Jahren war es noch so, dass die meisten Benutzerinnen und Benutzer zu uns gekommen sind und gesagt haben: Ich interessiere mich für ein bestimmtes Thema, zum Beispiel Handel in Köln im Mittelalter. Dann haben sie sich aus den entsprechenden Beständen dutzende Akten und Bücher geben lassen und sind die von vorne bis hinten durchgegangen. So arbeitet man heute nicht mehr. Man gibt ein Stichwort ein. Und alles, was ich mit diesem Stichwort nicht finde, das existiert für mich nicht. Das heißt, als Archiv müssen wir neu denken. Wir müssen unsere Erschließungsstrategie, unsere Katalogisierung, dieser Entwicklung anpassen. Die Nutzer müssen ja überhaupt erst auf die Idee kommen, sich an uns zu wenden.
Was wird am häufigsten im Archiv nachgefragt?
Namen und Adressen. Diese vollständig recherchierbar zu machen, ist auf absehbare Zeit nicht möglich. Wir müssten in 38 Kilometer Archivgut jedes einzelne Blatt umschlagen und alle Namen, die dort auftauchen, und gerne auch noch alle Adressen, in eine riesengroße Datenbank eingeben. Ohne technische Unterstützung ist das nicht möglich.
Haben Sie ein Lieblingsstück im Kölner Archiv?
Meine Lieblingsarchivalie ist eine, die noch nicht wieder aufgetaucht ist. Eine Franziskanerchronik aus dem 16. Jahrhundert, die sich mit den verschiedenen franziskanischen Niederlassungen im Nordwesten Deutschlands beschäftigt. Sie lag auf meinem Schreibtisch, als das Archiv eingestürzt ist. Geistliche Abteilung Nummer 199 ist die Signatur.
Zur Person
1972 wurde Ulrich Fischer in Bochum geboren. Er wuchs in Schwerte auf und studierte Geschichte in Trier, Durham und Münster. 2006 fing er im Kölner Stadtarchiv an, dem größten kommunalen Archiv Deutschlands. Dessen Leitung übernahm er im Juli 2025 von Bettina Schmidt-Czaia. Er ist der elfte Mann in diesem Amt seit Johann Jakob Peter Fuchs, der das Archiv von 1815 bis 1857 leitete. Fischer ist verheiratet, wohnt in Hennef und hat zwei erwachsene Kinder. Er ist Fan von Borussia Dortmund und den Kölner Haien.
Das Historische Archiv mit Rheinischem Bildarchiv hat rund 170 Beschäftigte, davon arbeiten etwa 70 in der Restaurierung. Beim Einsturz 2009 gab es in diesem Bereich lediglich eine Restauratorin und zwei freie Stellen. (fu)

