Irland, Köln und die Liebe zur Musik: Bernd Imgrund sprach mit dem Chefdirigent des WDR Funkhausorchesters David Brophy über dessen Jugend, Religion sowie musikalische wie kulinarische Vorlieben
WDR-Chefdirigent„Ich habe alle Sinfonien in meinem Kopf“

Zunächst dachte David Brophy an eine Karriere als Designer. Sein damaliger Lehrer riet ab.
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Sie kommen aus Santry, Dublin. Wie sah es dort in den 70ern aus?
Echt hart. Nahebei war Ballymun, die erste irische Satellitenstadt, so ein Experiment der späten 60er. Es gab Hochhäuser, aber keine Infrastruktur, nichts. Aber dafür Drogen, Drogen, Drogen.
Welchen Beruf hatten Ihre Eltern?
Mein Vater war Elektriker. Meine Mutter jobbte, musste aber aufhören zu arbeiten, als sie heiratete. So wollte das die katholische Kirche.
Die damals noch sehr mächtig war in Irland.
Wir kannten es nicht anders. In Irland haben die Priester nach der Unabhängigkeit 1922 die englischen Landlords ersetzt. Die waren die neuen Götter.
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Was ist seither mit Irland passiert?
Wir haben die Kirche beiseitegeschoben, weil wir erkannten, dass wir alle missbraucht wurden. Aber wir verhalten uns kulturell immer noch wie eine katholische Nation. Alle Kinder gehen wie eh und je zur Kommunion.
Und wer ersetzte die Priester?
Mein Großvater entstammte der Arbeiterklasse, aber er konnte Beckett und Joyce zitieren. Vielleicht ist es heute die Popmusik, die Helden produziert. Die irische Folk Music wurde in den 70ern ziemlich radikal. Und dann kam Anfang der 80er U2. Diese Musik war eine neue Möglichkeit, sich auszudrücken, sie hat uns eine neue, spirituelle Welt eröffnet.
Wie kamen Sie persönlich zur Musik?
Mein Bruder und ich wurden von meinen Eltern gezwungen, zur Messe zu gehen. Weil meine Mutter mich dazu drängte, habe ich im Kirchenchor gesungen. Auf Latein übrigens, Gregorianische Choräle und so etwas. Lieber hätte ich in der Zeit Fußball gespielt, aber das hat mich doch geprägt. Und sei es nur, weil es da Mädchen im Chor gab (lacht).
Musik sei Verbindung ohne Worte, sagen Sie. Wie schafft die Musik das?
Ich liebe es immer noch, an einem Klavier vorbeizugehen und einfach eine Note zu spielen. Das hat immer noch etwas Magisches für mich. Oder hören Sie jemandem zu, wie er mit dem Bogen über die Saite streicht. Eine Note, und dann zwei Noten zusammen, drei Noten, die einen Akkord ergeben, das löst Gefühle aus. Und dann diese Noten zu einer Phrase zu erweitern, das sind Momente, die man nicht in Worten ausdrücken kann.
War Ihre Familie musikalisch?
Nein, da wurden keine Instrumente gespielt. Meine Eltern hatten sechs Schallplatten, drei davon von den Beatles und zwei von James Last. Mein Vater liebte ihn. Und eines Tages bekamen wir über ein Zeitschriften-Abo eine Beethoven-LP. Ich hörte den Anfang der 5. Sinfonie, dieses ikonische „Ba ba ba baa, ba ba ba baa“, und ich dachte: Unglaublich, was ist das denn! Parallel zum Kirchenchor bekam ich dann mit 13 auch Klavierunterricht.
Arbeiten wollten Sie jedoch zunächst als Möbeldesigner.
Ja. Kurz bevor ich die Schule verließ, fragte mich mein Kunstlehrer: „Was machst du, wenn du nach Hause kommst?“ Ich sagte: „Als Erstes spiele ich Klavier.“ Und er darauf: „Dann lass das mit Kunst und Design, werde Musiker!“ Das war ein kluger Mann. Weil ich spät angefangen hatte mit der Musik, nahm ich mir nach der Schule ein Jahr Auszeit und übte jeden Tag sechs Stunden Klavier. So bekam ich mein Diplom, und dann ging es weiter.
Sie hatten sogar eigene TV-Sendungen auf RTÉ, dem irischen Staatssender.
Eine hieß „Der Chor der Generationen“, alle Mitglieder waren entweder 80 oder 8 Jahre alt. Das war wirklich etwas Besonderes.
2003 sind Sie bei den Special Olympics vor über 80.000 Menschen aufgetreten.
Mit Bono von U2. Bonos Vater ist in Finglas aufgewachsen, das direkt neben Santry liegt. Ich habe ihn als Teenager mal im Krankenhaus kennengelernt. Bei den Proben im Croke Park war Bono sehr beeindruckend. Der Mann ist nicht nur ein großartiger Showman und Leadsänger, sondern versteht auch sehr viel von Musik. So ähnlich habe ich mich später nochmal gefühlt, als ich Leuten wie Arnold Schwarzenegger und Mohammad Ali die Hand schütteln durfte.
Was kann schiefgehen, wenn man in der ganzen Welt dirgiert?
Richtig schräg war es in China. Der Oboist hielt das A nicht, senkte es andauernd zu einem Gis ab, und das ganze Orchester hatte keinerlei Disziplin. Wer bei den Proben gerade nicht spielen musste, holte sein Handy raus, es war zum Verrücktwerden. Ich habe schließlich mein eigenes demonstrativ ,zertrümmert' und gedroht, das mit allen Handys im Saal zu machen. Dann haben Sie es verstanden.
Das WDR-Funkhausorchester ist sehr international besetzt. Hat das Auswirkungen?
In Irland ist die Nationalität mit Spannungen, Kämpfen und Krieg verbunden. Eine multikulturelle, multinationale Gruppe bringt gegenseitige Akzeptanz unter die Menschen. Ich denke, so ein Orchester ist eine Metapher dafür, wie wir auf unserem kleinen, albernen Planeten miteinander auskommen könnten.
Was wussten Sie über Köln, bevor Sie den Job letztes Jahr angetreten haben?
Ich kannte 4711 und wusste, dass es so etwas wie „Kölsch“ gibt. Irgendwer erzählte mir, dass man in der Philharmonie ein Freibier bekommt, wenn man von der Bühne kommt (lacht). Die Atmosphäre hier hat mich ein bisschen an das Dublin der 90er erinnert.
Sie meinen, wir sind hier 30 Jahre zurück?
Eher ist Dublin ins Hintertreffen geraten. Es hat sich zurückentwickelt zu einem ziemlich stressigen Ort. Wenn ich die Leute hier beobachte, wie sie zur Arbeit gehen oder abends ausgehen, dann wirkt Köln deutlich entspannter auf mich.
Drei Entweder-Oder-Fragen: Gaelic Football oder Hurling?
Hurling. In Irland sagen wir, das ist die schnellste Sportart der Welt. Aber es hat auch etwas Balletthaftes. Es erfordert eine große Hand-Augen-Körper-Koordination, man braucht ein gutes Gleichgewicht, um hochzuspringen, den Ball zu fangen, zu landen, sich zu drehen und weiterzupassen. Für mich ist Hurling eines der schönsten Spiele, die es gibt.
Guinness oder Murphy's?
In Cork Murphy's, weil es von dort kommt und ich dieser Tatsache Respekt zolle. Überall sonst auf der Welt: Guinness. Mein Vater war bis in seine 40er hinein Abstinenzler, weil sein Großvater Alkoholiker war. Für meine beiden Söhne ist Guinness hingegen wie eine Religion. Mein Jüngster hat mit 16 schon Guinness getrunken, und er trinkt bis heute kein anderes Bier. Jetzt wird mein Vater bald 80 und geht mit mir und meinen beiden Söhnen schonmal zusammen in den Pub.
Was halten Sie von Kölsch?
Es ist sehr mild. Ich würde niemals Heineken oder Carlsberg trinken, aber Kölsch ist sehr angenehm. Nach meinem ersten Konzert hier war ich mit dem ganzen Orchester im Jameson´s Irish Pub auf der Friesenstraße. Aber ich mag auch den Corkonian und Barney Vallely´s, da kriegt man ein sehr gutes Pint.
Dritte Frage: Dubliners oder Pogues?
Oh Gott, das ist schwierig, weil das zwei großartige Bands sind. Ronnie Drew habe ich oft getroffen. Vor einem Konzert in der Royal Albert Hall in London ist er mal ein paar Pints trinken gegangen. Und dann noch ein paar, bis er das Konzert vergessen hatte und auch den Ort, wo es stattfinden sollte. Irgendwann tauchte er doch noch auf und meinte: Der Taxifahrer hat sich verirrt. Vielleicht würde ich im Zweifelsfall doch die Pogues bevorzugen. Als ich sie mit 18 auf dem großen Festival in Thurles sah, kam Shane (MacGowan, der legendäre Sänger starb 2023) im strömenden Regen völlig betrunken auf die Bühne, rutschte aus und sang er das erste Set komplett im Liegen. Unvergesslich.
Sehr irische Anekdoten. Sie sind nebenbei ein guter Golfspieler. Gibt es Parallelen zur Musik?
In Deutschland ist Golf ziemlich elitär. In Irland überhaupt nicht, schon mein Großvater, der zur Arbeiterklasse gehörte, spielte Golf in einem Arbeiterclub. Als ich letztens mit meinem Stiefsohn in Schottland eine Runde spielte, hatte er am vierten Loch einen perfekten Schlag. Und so ist es auch manchmal in der Musik: ein oder zwei perfekte Takte, die pure Perfektion, wie eine Erscheinung. Man denkt: „Oh ja, das ist es.“ Aber dann verschwindet dieses erhabene Gefühl auch wieder. Ob Golf oder Musik: Es ist eine Jagd nach der Perfektion. Und ich hoffe, sie hört nie auf.
Sagen wir, Sie stranden auf einer einsamen Insel und dürften nur ein einziges Musikstück mitnehmen. Welches wäre es?
John Cages 4'33! Wie Sie sicher wissen, sind das vier Minuten und 33 Sekunden Stille. Das reicht mir, weil ich alle Musik in meinem Kopf habe. Kennen Sie Brian Keenan? Das war ein irischer Lehrer, der in den 80ern mehrere Jahre im Libanon von der Hisbollah gefangen gehalten wurde. Man fragte ihn, wie er die Gefangenschaft überlebt hatte. Und er sagte, er habe in Gedanken Musik gespielt und Gedichte rezitiert, die er mal auswendig gelernt hatte.
Das erinnert an die „Schachnovelle“ von Stefan Zweig, wo ein Gefangener der Gestapo im Kopf Schachpartien nachspielt.
Ja, das klingt ähnlich. Auf das Gedächtnis kommt es an, es hört nie auf zu liefern. Ich glaube, deshalb sind so viele Musiker Alkoholiker: Sie versuchen, die Musik wenigstens für eine Weile aus ihrem Kopf zu kriegen. Nach einem Konzert kann auch ich nicht einfach abschalten und einschlafen. Drei, vier Pints helfen, danach gehe ich nach Hause und schlafe wie ein Stein.
Ihr Kopf ist auch voller Musik?
Wenn mir im Studium etwas einmal vorgespielt wurde, hörte ich es mir im Kopf noch fünfmal an. Und dann konnte ich es ohne Weiteres aufschreiben. Deshalb brauche ich auf der einsamen Insel keine Schallplatten. Ich habe alle Sinfonien in meinem Kopf und kann sie jederzeit abspielen.
