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KunstkompassLinde Rohr-Bongard recherchiert weltweit für die Kunst

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Linde Rohr-Bongard,  Kunstjournalistin und Herausgeberin des „Kunstkompass"

Linde Rohr-Bongard, Kunstjournalistin und Herausgeberin des „Kunstkompass"

Journalistin Linde Rohr-Bongard hat für den Kunstkompass die Entwicklungen auf dem Kunstmarkt im Blick und ist beim Ranking feste Marke.

Der Citroën C3 Pluriel ist ein unkonventionelles Auto, das mehrere Funktionen vereint: Es ist Limousine, Cabrio, Spider oder Pickup. Als Linde Rohr-Bongard mit ihrem französischen Supermini jüngst zu Bildhauer Tony Cragg in den Wuppertaler Skulpturenpark Waldfrieden tuckerte, hatte sie einiges im Gepäck, so dass auch Cragg nicht schlecht staunte, was aus dieser „Knutschkugel“, wie er es nannte, alles zum Vorschein kam.

Tiefe Freundschaft zu Beuys

Eine Steinstele von Joseph Beuys fand im Park ihren Platz, drei Lindenbäume wurden gepflanzt und den passenden Spaten mit der Aufschrift „7000 Eichen“ von Beuys höchstselbst hat Linde Rohr-Bongard auch – ein Stück von der documenta 7 im Jahr 1982. Die Kunstjournalistin feierte in diesem Jahr – als gebürtige Wuppertalerin natürlich im Waldfrieden — 80. Geburtstag. Sie will später noch mehr Werke von Beuys dorthin spenden, mit dem sie eine tiefe Freundschaft verband. Der Mann mit dem Hut war ihr Mentor, zumal sie einen Tag nach ihrem 40. Geburtstag Witwe wurde.

Beuys, Günther Uecker und ihr Mann Willi Bongard hatten allerdings etwas ausgeheckt, das die Pluriel-Fahrerin noch bis heute auf Trab hält: Sie erfanden den Kunstkompass, ließen sich ihn patentieren. Und Beuys redete Linde Rohr-Bongard gut zu, das Projekt weiterzuführen. Ein Jahr wollte sie es versuchen — und blieb dabei. „Die Arbeit ist mein Fitnesscenter“, sagt sie über ihren Kompass.

Das renommierte Ranking kürte gerade zum 55. Mal die wichtigsten Gegenwartskünstler der Welt. Das Wirtschaftsmagazin „Capital“ hielt dazu ein Werk für Tony Cragg in limitierter Auflage für die Leser zum Kauf bereit. Um die Edition kümmerte sich wie immer: Linde Rohr-Bongard. Viele Anekdoten sammelten sich in ihrer Zeit. Mit Sigmar Polke machte sie gemeinsam Siebdrucke. Der Deal: Sie hatte Stoffe ausgewählt, die er in Kunst verarbeitete. Dazu tanzten sie durch das Atelier — lebenslustig.

Selbst zur Kunst geworden

Im Büro lehnen auch Bilder von Sabine Moritz, Ehefrau von Gerhard Richter, an der Wand. Aber die Kunstjournalistin hat alles im Blick, liebt ihre Bilder, kauft, wo sie es kann. Außer dem Waldfrieden erhält auch das Zadik, das Zentralarchiv für deutsche und internationale Kunstmarktforschung an der Universität zu Köln, Unterlagen, Bücher und Zeitschriften. Für die Editionen, die zum jährlichen Kunstkompass entstehen, setzt die Kunstjournalistin alle Hebel in Bewegung und wurde dabei nicht selten selbst zur Kunst: Rosemarie Trockel wählte ein Bild von Linde Rohr-Bongard aus jungen Jahren, wie sie Spaghetti im Mund balanciert und der ostdeutsche Popkünstler Moritz Goetze komponierte Rohr-Bongard mit Beuys im Bauch als Emailletafel, dazugehörig ihr Mann mit dem Kompass.

Damals wohnten die beiden in der Lindenstraße, im legendären Galeriehaus, das für jede Künstlerseele gleich die Adresse für das Paradies war. Aber experimentierfreudig wie sie war, wollte Linde Rohr-Bongard Beuys und die anderen beim Wort nehmen und eine Schule für alle eröffnen. Und sie wurde im oberbergischen Nümbrecht fündig, das sie rückblickend als suboptimalen Standort für das Projekt bezeichnet. Sie nannte es „Ihr gelbes Haus“.

Kulturprojekt in alter Schule

Eine alte Schule unterhalb von Schloss Homburg, in der sie schuftete und renovierte, die Wiese bis zur Erschöpfung mit der Sense traktierte und anschließend den Oberbergern von 3 bis 83 Jahren Kunst, Tanz und überhaupt einen Impuls zum gesellschaftlichen Umbruch nahebrachte. Ein Lebensprojekt, das sie beherzt in die Tat umsetzte, über das die Männer in ihrem Umfeld sich immer nur die Köpfe heißredeten. „Sie klopften mir auf die Schulter und sagten, es sei eine Herausforderung für mich.“

Die Kunst- und Deutschlehrerin hatte ein illustres Kollegium: Heinrich Böll war der Höflichkeitslehrer, die tanzbegeisterte Linde die Bewegungslehrerin, ihr Mann Willi Bongard lehrte Kunst und Markt und Joseph Beuys Soziale Plastik – sein Thema. Die Grundlage der Idee einer Sozialen Plastik ist der Mensch, der durch Denken und Sprache soziale Strukturen entwickelt. Diese Entwicklung der Gesellschaft verstand Joseph Beuys als einen kontinuierlichen kreativen Prozess. Die Aufgabe der Kunst sei es, dem Menschen diesen Prozess bewusst zu machen. Auf der Gästecouch Als Tochter eines Kapellmeisters und einer Näherin ist Linde Rohr-Bongard der Kunst auf jede nur erdenkliche Herangehensweise aufgeschlossen.

Drei Monate durch die USA gereist

Sie tanzt und sie arbeitet mit Stoffen. Es freut sie, dass Faden und Wolle mittlerweile ihren festen Platz in der Kunstwelt gefunden haben. „Es gibt eine neue Sicht auf eine einst unterschätzte Kunstbewegung“, sagt sie und widmete in der Dezemberausgabe von „Capital“ den Arbeiten von Sheila Hicks und Klára Hosnedlová einen Artikel. Von sich selbst sagt die Kunstjournalistin, dass sie „überhaupt keinen Sinn für Zahlen“ habe.

Wie passt das zu einem Wirtschaftsblatt wie „Capital“? Sie hat einen Mitarbeiter, der die Zahlen und Listen bearbeitet während sie die Informationen einholt, durch die ganze Welt reist. Anfangs wurde das vom Verlag bezahlt. Drei Monate sollte sie zum Auftakt in den 1980er Jahren durch die USA reisen, um die Galerien und die Museen dort kennenzulernen. „Das habe ich genossen.“

Bescheiden schläft sie auch mal auf einer Gästecouch, wie bei Christo und Jeanne-Claude, die wiederum zu den fachlichen Beratern des Kunstkompasses zählten. Heute, da die Budgets der Medienhäuser oft stark gekürzt wurden, zahlt Rohr-Bongard ihre Recherche-Reisen aus der eigenen Tasche, kauft Kunst und lässt sich von der Welt inspirieren. „Meine Mutter ist mit 79 in Ägypten noch auf dem Kamel geritten. Ich weiß, woher ich das alles habe.“

Der Kunstkompass wertet nicht die Verkaufssummen der Bilder sondern die Zahl der Ausstellungen, Preise oder Besprechungen in Kunstmagazinen, mit denen sich Künstler einen Namen machen. Gerhard Richter stand jüngst bei der 55. Ausgabe wieder einmal ganz oben. Die Liste der „Stars von morgen“– Künstler jenseits der Top 100, die den größten Punktezuwachs hatten – wird in diesem Jahr angeführt von der 96 Jahre alten Japanerin Yayoi Kusama, deren Arbeiten das Museum Ludwig im nächsten Jahr zeigt. Mehr als 30 000 Künstler hat der Kompass über die Jahre in den Fokus genommen. Ursprünglich bildeten 17 Museen die Basis der Recherche, heute sind es weltweit über 300.