Neues Buch zur RAFVerhinderte die Stasi die Rettung des entführten Schleyer?

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RAF schleyer

Hanns-Martin Schleyer 

Köln – Es war das schwerste Verbrechen der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. Und mehr als 40 Jahre später hält die Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer durch die terroristische Rote-Armee-Fraktion (RAF) 1977 die Menschen immer noch in Atem. Es geht um sechs Wochen, die die Bundesbürger in dieser Dramatik noch nie erlebt hatten – und über die auch heute noch nicht alles bekannt ist.

Nun hat der ehemalige Rundschau- und langjährige Spiegel-Redakteur Georg Bönisch zusammen mit dem Spiegel-Kollegen Sven Röbel nach rund vier Jahren Recherche ein Buch veröffentlicht, das eine Aufsehen erregende These beleuchtet: War es damals die Stasi, die das entscheidende Fernschreiben mit dem richtigen Hinweis auf das Schleyer-Versteck in Erftstadt-Liblar , Zum Renngraben 8 verschwinden ließ? „Fernschreiben 827. Der Fall Schleyer, die RAF und die Stasi“ lautet der im Kölner Greven-Verlag am 15. Oktober erscheinende Titel (208 Seiten, 18,- Euro).

Detailgenaue Schilderung vom Werdegang der RAF

In weiten Teilen des Buches lassen Bönisch und Röbel zunächst noch einmal den Aufstieg der RAF „aus der implodierten Bewegung der sogenannten 68er“ heraus Revue passieren, dann folgt die Schleyer-Entführung und, Tag für Tag nachvollzogen, die Phase der Geiselhaft zwischen dem 5. und 15. September 1977 in Erftstadt-Liblar. Alles sehr akribisch, sehr detailgenau geschildert und spannend zu lesen. Für die junge Generation, die sich vielleicht nie mit der größten terroristischen Bedrohung der Bundesrepublik in den 70er, aber auch noch in den 80er Jahren beschäftigt hat, ein hervorragender Überblick. Und für die Älteren ein Déjà-vu: Eine aufwühlende Zeitreise in die aufregenden Tage des Septembers 1977.

Tatort Köln, Vincenz-Statz-Straße im Stadtteil Braunsfeld: Am 5. September 1977 wurde hier Hanns-Martin Schleyer von RAF-Terroristen entführt, drei Polizisten und der Fahrer ermordet.

Tatort Köln, Vincenz-Statz-Straße im Stadtteil Braunsfeld: Am 5. September 1977 wurde hier Hanns-Martin Schleyer von RAF-Terroristen entführt, drei Polizisten und der Fahrer ermordet.

Doch was hat es nun mit dem Fernschreiben 827 und der Stasi auf sich? Bis heute ist trotz aller offizieller Untersuchungen und journalistischer oder wissenschaftlicher Recherchen nicht aufgeklärt, wie das Fernschreiben im Kölner Polizeipräsidium mit dem bereits früh vorhandenen, entscheidenden Hinweis auf das Schleyer-Versteck am 9. oder 10. September 1977 verschwand. Behördenschlamperei, lautet die gängigste These. Kompetenz-Chaos in diesen hektischen Tagen eine andere.

Rätsel  um ein verschwundenes Fernschreiben

Nun gehen Bönisch und Röbel einer bisher nicht beachteten Spur nach: dass das Verschwinden des Fernschreiben 827 „mit bemerkenswerten Geheimdienstaktivitäten im Raum Köln-Bonn“ durch die Stasi zu tun haben könnte. „Eine endgültige Antwort, eine Smoking Gun, gibt es nicht, und konkrete Belege, dass nachrichtendienstliche Aktivitäten Ost-Berlins die westdeutschen Ermittlungen damals direkt beeinflussten, ließen sich keine finden“, geben die Autoren zu. Dennoch, meint Bönisch, „eröffnet die Gegenüberstellung der teils unbekannten Geschehnisse in Ost und West neue Perspektiven auf den Fall Schleyer“.

Erpresserschreiben der Terroristen mit Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer.

Erpresserschreiben der Terroristen mit Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer.

Wie kommt man überhaupt auf eine auf den ersten Blick erstaunlich anmutende These. Bönisch: „In einem Untersuchungsbericht des ehemaligen Bundesinnenministers Hermann Höcherl war – ergebnislos – die Möglichkeit verfolgt worden, ob vielleicht ein schludriger Beamter mit schlechtem Gewissen das entscheidende Fernschreiben zum Selbstschutz habe verschwinden lassen. Wir haben uns dann gefragt, wer könnte noch Interesse am Verschwinden des Papiers gehabt haben. Und kamen zum Ergebnis: Die Stasi hätte schon ein Motiv gehabt. In dem Buch führen wir nun eine Art Indizienprozess.“

Die Ereignisse rund um die Schleyer-Entführung

Am 5. September 1977, 17.28 Uhr, wird Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer in der Kölner Vincenz-Statz-Straße von den vier RAF-Terroristen Peter-Jürgen Boock, Sieglinde Hofmann, Willy Peter Stoll und Stefan Wisniewski entführt. Sein Fahrer und drei Polizisten verlieren ihr Leben. Mit der Entführung sollte die RAF-Führung unter Andras Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Imgard Möller aus dem Gefängnis Stuttgart-Stammheim freigepresst werden. Schleyer wird in eine konspirative Wohnung nach Erftstadt-Liblar, Zum Renngraben 8, gebracht.

Schon am 7. September weist ein Fernschreiben der Polizei Erftstadt auf insgesamt acht verdächtige Wohnungen hin, unter anderem auf die im Renngraben.

Am Abend des 9. oder am 10. September verschwindet das Fernschreiben 827 im Kölner Polizeipräsidium spurlos.

Ab dem 16. September wird Schleyer einige Tage lang in einem Haus in der Stevinstraat im Stadtteil Scheveningen in Den Haag festgehalten, weil die Entführer fürchten, in Liblar entdeckt zu werden.

In der Nacht vom 19. zum 20. September wechseln sie erneut das Versteck und bringen ihre Geisel in eine Wohnung im Brüsseler Bezirk Sint-Pieters-Woluwe.

Am 13. Oktober entführen arabische Terroristen zur Unterstützung ihrer deutschen Gesinnungsgenossen die Lufthansa-Maschine „Landshut“ mit 86 Passagieren und fünf Besatzungsmitgliedern auf dem Flug von Mallorca nach Frankfurt.Nach einem mehrtägigen Irrflug durch mehrere Länder des Nahen Ostens kann die deutsche GSG 9 die Geiseln am 18. Oktober um 0.05 Uhr im somalischen Mogadischu befreien.

Am 18. Oktober in den frühen Morgenstunden begehen Baader, Ensslin und Raspe in ihren Zellen Selbstmord, Ingrid Möller überlebt schwer verletzt.

Am 18. Oktober ermorden die Entführer im Laufe des Tages Hanns-Martin Schleyer an einem bis heute unbekannten Ort.

Am 19. Oktober wird seine Leiche im Kofferraum eines im elsässischen Mülhausen abgestellten Audi aufgefunden. (sas)

Nachgewiesen ist: Jahre bevor die RAF die Anonymität des Wohnkomplexes „Zum Renngraben 8“ in Erftstadt-Liblar für ihre verbrecherischen Ziele nutzte, wohnte dort ein Stasi-Agentenpaar mit den Tarnnamen Elke und Manfred Hier. „Mit der heute Mitte 70-jährigen konnten wir persönlich in Leipzig reden. Sie hat uns zur Stasi-Arbeit im Raum Köln und Bonn alles erzählt, was sie wusste“, schildert Bönisch. Klar ist, dass die DDR rund um die damalige Bundeshauptstadt Bonn ein Heer von Agenten unterhielt. Und dass diese zur Zeit der Schleyer-Entführung eine ungewöhnlich hohe Spionage- und Abhöraktivität entfalteten – schon um aus Selbstschutz darüber im Bilde zu sein, welche Fahndungsmaßnahmen die bundesrepublikanischen Sicherheitsbehörden planten. Sie wollten nicht enttarnt werden und möglichst keine Maßnahmen in ihrer Umgebung.

Bönisch: „Sollte ein Stasi-Spitzel das fragliche Fax 827, auf dem allein fünf Erftstädter Adressen zur Überprüfung aufgeführt waren, gesehen haben, wäre es naheliegend gewesen, es verschwinden zu lassen.“

Eine der damals aktiven DDR-Agentinnen hieß mit Tarnnamen Inge Schneider. Sie wurde nicht nur von der DDR, sondern Ende 1977 auch von der Sowjetunion hoch ausgezeichnet, weil sie „entscheidende Hinweise über das gegnerische Fahndungs- und Überwachungssystem“ geliefert habe, wie Bönisch und Röbel aus internen Stasi-Unterlagen zitieren.

Inge Schneider arbeitete im Herbst 1977 beim Landeskriminalamt NRW als Fernschreiberin – der Behörde, die eine Zeit lang in den entscheidenden Tagen der Fahndung nach Schleyers Versteck für den Koordinierungsstab verantwortlich war – der Stelle, in der das entscheidende Fernschreiben 827 am 9. oder 10. September verschwand. „Eine LKA-Kraft wurde zu diesem Zeitpunkt zur Unterstützung nach Köln entsandt“ sagte Bönisch. War dies Inge Schneider? Dies ließ sich nicht mehr klären.

So, wie sich manches in diesem Zusammenhang nicht mehr genau nachweisen lässt. Dennoch sind die Autoren von ihrer These überzeugt. Bönisch: „Die Wahrscheinlichkeit halte ich für sehr, sehr hoch.“

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