Mitarbeiter von Ausländerbehörden beklagen Ahnungslosigkeit und Aktionismus nach dem Solingen-Attentat. Interne Dokumente belegen den Ärger in den Behörden.
Nach Solingen-AttentatNeue Vorwürfe gegen NRW-Ministerin Paul

Im Zentrum der Kritik: Josefine Paul.
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In der politischen Aufarbeitung des Attentats von Solingen haben Mitarbeiter von nachgeordneten Ausländerbehörden der ohnehin angeschlagenen NRW-Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne) weitere schwere Vorwürfe gemacht. Von Ahnungslosigkeit, Aktionismus und dem Abwälzen von Verantwortung nach unten ist dabei die Rede.
Der Untersuchungsausschuss des Landtags beschäftigte sich am Dienstag erneut mit der Frage, warum der Syrer Issa al Hasan, der im August 2024 auf dem Solinger Stadtfest drei Menschen erstach und neun weitere zum Teil schwer verletzte, zuvor nicht planmäßig abgeschoben wurde.
Der inzwischen pensionierte Leiter der Zentralen Ausländerbehörde (ZAB) Bielefeld erklärte im Zeugenstand, dass seine Behörde bei Pauls Ministerium mehrfach eine musterartige „Nachtzeitverfügung“ für ausreisepflichtige Asylbewerber in ihrer Unterkunft thematisiert habe. Über ein Jahr lang habe man in Düsseldorf immer wieder darauf gedrungen, dass man diese Form von Hausarrest vor der Rückführung für ein „sinnvolles Mittel“ erachte. Passiert sei nichts. Offenbar hätten sich die für die Landesflüchtlingseinrichtungen zuständigen Bezirksregierungen personell nicht in der Lage gesehen, solche Nachtzeitverfügungen durchzusetzen, so der ehemalige Bielefelder Behördenchef.
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Gescheiterte Abschiebung von Issa al Hasan
Ein womöglich schwerwiegendes Versäumnis: Issa al Hasan hätte als sogenannter „Dublin-Flüchtling“ eigentlich bereits am 5. Juni 2023 nach Bulgarien überstellt werden müssen. Obwohl seine Rückführung mit den Behörden in Sofia fix organisiert war, scheiterte der nächtliche Transfer aus dem Landesflüchtlingsheim Paderborn zur wartenden Maschine am Flughafen Düsseldorf.
Der Syrer war damals angeblich nicht auffindbar, saß aber laut dem elektronischen Anwesenheitssystem wenige Stunden später wieder beim Mittagessen in der Landeseinrichtung. Da kein weiterer Rückführungsversuch unternommen wurde, verstrich die Überstellungsfrist innerhalb der EU. Issa al Hasan erhielt deshalb in Deutschland einen Duldungsstatus und wurde Solingen zugewiesen. Dort muss er sich unbemerkt islamistisch radikalisiert haben.
Issa al Hasan sei bei der Zentralen Ausländerbehörde Bielefeld als „Akte wie alle anderen“ behandelt worden, sagte ein für den Syrer zuständiger Sachbearbeiter aus. Das lag aber womöglich auch daran, dass seine längere Abwesenheit aus der Landesflüchtlingseinrichtung Paderborn im April 2003 nicht weitergemeldet wurde. Der pensionierte ZAB-Leiter machte jedenfalls deutlich, dass tagelanges Abtauchen womöglich die gerichtlichen Chancen auf einen Abschiebehaftantrag erhöht hätten.
Vorwürfe und interne Kritik an Ministerin Paul
Neue Dokumente des Untersuchungsausschusses belegen zudem, wie groß der Ärger über Ministerin Paul nach dem Anschlag in den unteren Dienststellen war. So beschwerte sich die Leiterin der Paderborner Landesflüchtlingseinrichtung in einer E-Mail vom 29. August 2024 an die Bezirksregierung Detmold, dass Paul öffentlich Meldeversäumnisse rund um die gescheiterte Abschiebung des späteren Terroristen in Paderborn verortet hatte.
„Hier wird eindeutig eine Schuldige gesucht und sie wurde nun gefunden. Die, die an der letzten Stelle steht, muss für Versäumnisse und völlige Unwissenheit von Politikern herhalten“, schreibt die Beamtin, die sich über das Wegtreten von Verantwortung nach unten beschwert: „Dank Frau Ministerin Paul stehe ich als Person im Fokus.“ In der Bezirksregierung Detmold wurden am Tag zuvor bereits Äußerungen der Ministerin laut einer internen E-Mail der dortigen Pressestelle als „höchst problematisch“ eingestuft.
Ministerin Paul unter Druck
Paul selbst war nach dem Solinger Attentat tagelang abgetaucht und selbst für ranghohe Regierungsmitglieder nur schwer zu erreichen. In ihren ersten öffentlichen Einlassungen machte sie dann vor allem die Zentrale Ausländerbehörde und die Landesflüchtlingsunterkunft Paderborn für die gescheiterte Abschiebung des späteren Attentäters verantwortlich. In einem Erlass vom 30. August 2024 verfügte die Ministerin schließlich, dass bei gescheiterten Rückführungen von „Dublin-Fällen“ in ein anderes EU-Land grundsätzlich ein zweiter Abschiebeflug zu buchen und alles zu protokollieren sei. Der Erlass war Teil des angeblich „umfangreichsten Sicherheits- und Migrationspakets der Landesgeschichte“, das Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) in der Defensive nach dem Solingen-Anschlags schnüren ließ.
Kritik an neuen Regelungen zum Dublin-Verfahren
Interne Dokumente zeigen nun, dass die Praktiker in den Ausländerbehörden die neuen Vorgaben für reinen Aktionismus hielten. Der Leiter der Landesflüchtlingsunterkunft Herford sprach in einer E-Mail vom 9. September 2024 an die Bezirksregierung Detmold sogar von einem „schwachsinnigen Erlass“. Hintergrund: Wenn eine Rücküberstellung in Länder wie Bulgarien oder Kroatien scheitert, dauert es wegen schwieriger Modalitäten oft Monate, um einen neuen Flug zu bekommen. In der Regel ist dann die Überstellungsfrist des EU-weiten „Dublin-Verfahrens“ schon abgelaufen. Allenfalls die formelle Feststellung eines Untertauchens verlängert sie auf ein Jahr. Auch das ist im Fall Issa al Hasan nicht geschehen.
Hohe Stornierungszahlen bei Dublin-Abschiebungen in NRW
Bis heute gibt es in NRW extrem hohe Stornierungszahlen bei Dublin-Abschiebungen. Allein von Januar bis Ende August sind im laufenden Jahr wieder 773 Überstellungen gescheitert, weil die Personen nicht anzutreffen waren. Im vergangenen Jahr waren es 1030 Fälle.
Offenbar hat die Ministerin in den Wochen nach dem Anschlag mit gespaltener Zunge gesprochen. Während nach außen den nachgeordneten Behörden die Schuld für die gescheiterte Abschiebung des Terroristen zugeschoben wurde, habe sie irgendwann persönlich beim ZAB-Leiter in Bielefeld angerufen, berichtete dieser im Untersuchungsausschuss: „Frau Paul wollte wissen, wie es uns und den Mitarbeitern geht. Und hat mir gegenüber bestätigt, dass aus Sicht des Ministeriums keine Fehler in der Sachbearbeitung passiert sind.“
