Vor 75 Jahren wurde in Bonn Geschichte geschrieben: Erstmals trat der Bundestag, das Parlament der gerade neu gegründeten Bundesrepublik zusammen. Ein anderes Verfassungsorgan war jedoch schneller.
Deutschlands GeschichteIn der Turnhalle hat alles angefangen – der Bundestag wird 75
Exakt 4527 Plenarsitzungen, 8977 verabschiedete Gesetze, 173043 Drucksachen – die Geschichte des Deutschen Bundestags ließe sich auch anhand solcher Zahlen erzählen, die die Bundestagsverwaltung gerade penibel zusammengetragen hat. Und dann wären da noch: 2524 namentliche Abstimmungen, 31610 Stunden Gesamtsitzungszeit, 177813 gehaltene Reden. An diesem Samstag vor genau 75 Jahren trat der Bundestag zu seiner ersten Sitzung zusammen. Dieser 7. September 1949 markierte den parlamentarischen Neuanfang nach dem Zusammenbruch Hitler-Deutschlands, den die Alliierten militärisch erkämpft hatten. Das Land lag in Trümmern, materiell wie moralisch. Es war in West und Ost geteilt. Zehntausende ehemalige Wehrmachtsoldaten befanden sich gut vier Jahre nach der Kapitulation noch immer in sowjetischer Kriegsgefangenschaft.
Provisorisch wie ganz Deutschland war auch die erste Sitzung des am 14. August 1949 gewählten Bundestags: Die Abgeordneten kamen in Bonn in der einstigen Turnhalle der Pädagogischen Akademie zusammen, die zuvor zum Plenarsaal umgebaut worden war. „Was erhofft sich das deutsche Volk von der Arbeit des Bundestags?“, fragte Alterspräsident Paul Löbe bei der Eröffnung der Sitzung und gab auch gleich selbst die Antwort: „Dass wir eine stabile Regierung, eine gesunde Wirtschaft, eine neue soziale Ordnung in einem gesicherten Privatleben aufrichten, unser Vaterland einer neuen Blüte und neuem Wohlstand entgegenführen.“
Große Redeschlachten zu Zukunftsfragen
Als der Bundestag an diesem 7. September um 16.05 Uhr zusammentrat, hatte der Bundesrat seine erste Sitzung schon hinter sich. Die Länderkammer nahm ihre Arbeit um 11.12 Uhr auf – ebenfalls im Provisorium Pädagogische Akademie, aber nicht in der früheren Turnhalle, sondern in der einstigen Aula. Und während im Bundestag Beethoven zur Eröffnung der Sitzung gespielt wurde, war es im Bundesrat Bach. Der Bundestag als Gesetzgeber, der Bundesrat als Instrument zur Wahrung der Länderinteressen und ein Stück weit auch als Korrektiv – so hatten die Mütter und Väter des Grundgesetzes die föderale Ordnung des neuen Staates festgelegt.
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75 Jahre Bundestag – das bedeutet viel parlamentarische Kleinarbeit, aber auch immer wieder große Debatten zu Schlüssel- und Richtungsfragen der Republik. So erlebte das Parlament im Februar 1952 eine 20-stündige Redeschlacht zur Wiederbewaffnung Deutschlands. Sogar 22 Stunden dauerte das parlamentarische Gefecht um die Ostverträge im Februar 1972. Hitzige Debatten wurden 1968 zur Verabschiedung der Notfallgesetze, 1974 zur Reform des Abtreibungsparagrafen 218, 1981 zum Nato-Doppelbeschluss oder 1990 zum Einigungsvertrag geführt.
Sternstunden erlebte der Bundestag aber gerade auch bei leise geführten Debatten über wichtige gesellschaftspolitische Fragen wie beim Ringen um die Präimplantationsdiagnostik 2011 oder um die Sterbehilfe 2015 und 2023. Und nicht immer mussten sich Beratungen bis in die tiefe Nacht ziehen, um als wichtig in die Parlamentsgeschichte einzugehen. Als der Bundestag am 27. Februar 2022, einem Sonntag, zu einer Sondersitzung wegen des Überfalls Russlands auf die Ukraine drei Tage zuvor zusammenkam und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) den Begriff der „Zeitenwende“ prägte, dauerte die Debatte dreieinhalb Stunden.
Knappes Votum für Umzug nach Berlin
Tatsächlich bis tief in die Nacht ging eine folgenschwere Sitzung am 20. Juni 1991. Der Bundestag beriet fast zwölf Stunden lang über den künftigen Sitz von Parlament und Regierung. Um 21.47 Uhr verkündete Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) das knappe Votum für den Umzug nach Berlin. Dieser wurde auch zu einer logistischen Herausforderung: In 24 Zügen rollten 50000 Kubikmeter Möbel von der alten in die neue Hauptstadt. Am 1. September 1999 nahmen Bundestag und Bundesregierung offiziell die Arbeit in Berlin auf.
In seinen 75 Jahren sah der Bundestag mehrere Parteien kommen und gehen. 1983 zogen die Grünen ein, 1990 die PDS (heute Linke), 2013 flog die FDP raus, 2017 kam sie zurück. Bei der Wahl 2017 schaffte es auch die AfD erstmals in den Bundestag. Ein Novum erlebte dieser im Dezember 2023: Die Linksfraktion löste sich auf, nachdem Sahra Wagenknecht und neun andere Abgeordnete aus der Partei ausgetreten waren. Heute sitzen die Linke und das BSW als Gruppen mit stark eingeschränkten Rechten im Parlament.
Leidenschaft und verbale Entgleisungen
Der Bundestag war von Anfang an ein Parlament, in dem mit Leidenschaft und bisweilen auch mit Härte um den richtigen politischen Weg gerungen wurde – verbale Entgleisungen eingeschlossen. Schon Alterspräsident Löbe appellierte bei der Eröffnung der ersten Sitzung an die Abgeordneten, nach einem „erbitterten Wahlkampf“ wieder zu Maß und Mitte zu finden: „Es braucht nicht niederreißende Polemik, sondern aufbauende Tat.“ Man müsse so weit zusammenfinden, „dass Ersprießliches für unser Volk daraus erwächst“.
Als Bärbel Bas (SPD) in der ersten Sitzung der laufenden Wahlperiode am 26. Oktober 2021 zur Bundestagspräsidentin gewählt war, mahnt sie in ihrer ersten Rede „Respekt“ und einen „angemessenen Ton“ an. „Wir haben eine Vorbildfunktion. Jede und jeder Einzelne von uns steht für „die Politik“ und damit in der Pflicht, den Deutschen Bundestag würdig zu vertreten.“
Angemessen war der Ton jedoch schon in der Frühzeit des Bundestags nicht immer. Ein Meister der Polemik war der frühere SPD-Fraktionschef Herbert Wehner, der Kontrahenten schon mal „Schwein“, „Schleimer“ oder „Dreckschleuder“ nannte und dafür Ordnungsrufe kassierte. Seit 1949 wurden davon 783 erteilt.
Unvorstellbar aber war bis zum Einzug der AfD, dass im Plenum über „Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse“ schwadroniert wurde, wie dies AfD-Fraktionschefin Alice Weidel im Mai 2018 tat. Auch dafür erhielt sie einen Ordnungsruf. Die AfD, da sind sich die anderen Fraktionen einig, zeichnet für eine erhebliche Verschärfung der Debatten verantwortlich.
Frauenanteil recht gering
Dass der Frauenanteil mit gegenwärtig rund 35 Prozent nach wie vor niedrig und von Parität weit entfernt ist, ist eine der Schwächen des Bundestags. Dass das Parlament bei den vergangenen Wahlen immer größer wurde, ist eine andere. Bei der Wahl 2021 schwoll es auf 736 Abgeordnete an – das größte frei gewählte Parlament der Welt. Aber Abhilfe ist in Sicht: Durch die Wahlrechtsreform der Ampel-Parteien wird der nächste Bundestag, der im kommenden Jahr gewählt wird, nur noch 630 Mandate zählen.
75 Jahre – das will gefeiert werden. Der Bundestag wird noch an diesem Samstag seinen „Tag der Ein- und Ausblicke“, wie er den jährlichen Tag der offenen Tür nennt, ganz ins Zeichen seines Jubiläums stellen. Am kommenden Dienstag soll es vor Beginn der Haushaltsdebatte im Plenarsaal eine Gedenkveranstaltung zur Konstituierung des Parlaments vor 75 Jahren geben.
Und der Bundesrat will an diesem Samstag für einen Festakt an seine alte Bonner Wirkungsstätte zurückkehren. Daran teilnehmen wird Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, dessen Amt in diesen Tagen auch 75 Jahre alt wird. Denn am 12. September 1949 wählte die Bundesversammlung Theodor Heuss zum ersten Bundespräsidenten. Der erste Bundeskanzler wurde am 15. September gewählt: Der frühere Oberbürgermeister von Köln, Konrad Adenauer (1876 bis 1967), erhielt im ersten Wahlgang die denkbar knappste Mehrheit. 202 der 402 stimmberechtigten Mitglieder des Hauses votierten für ihn. (dpa)