Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Neue Missstimmungen in Russland„Manche sagen, Putin wird für diese Entscheidung in der Hölle schmoren“

5 min
Der russische Präsident Wladimir Putin während einer Pressekonferenz mit US-Präsident Trump auf der Joint Base Elmendorf-Richardson in Alaska. (Archivbild)

Der russische Präsident Wladimir Putin während einer Pressekonferenz mit US-Präsident Trump auf der Joint Base Elmendorf-Richardson in Alaska. (Archivbild)

Während der Kreml auf Kurs bleibt, herrscht in manchen russischen Telegram-Kanälen, aber auch im Grenzgebiet zunehmend Frust.

In Russland scheint die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem von Kremlchef Wladimir Putin begonnenen Angriffskrieg und dem Vorgehen der eigenen Streitkräfte gegen die Ukraine in den letzten Wochen zu anzusteigen – auch wenn sich das noch nicht in Umfragen niederschlägt.

So genossen die russischen Streitkräfte bei der letzten Erhebung im April großes Vertrauen in Russland. 75 Prozent der Befragten gaben damals an, mit der Armee und dem Feldzug in der Ukraine zufrieden zu sein. Lediglich acht Prozent stellten sich klar gegen den Krieg, bei dem die russischen Streitkräfte weiterhin nahezu täglich auf Angriffe gegen die ukrainische Zivilbevölkerung setzen.

Russland: Miese Stimmung bei Kriegsbloggern und im Grenzgebiet

Die Umfragen in Russland sind jedoch stets mit Vorsicht zu genießen – frei verfügbare Informationen über die Lage in der Ukraine oder die tatsächlichen Taten gibt es in dem Land nicht.

Die Staatsmedien berichten kaum über Gegenangriffe oder versuchen sie – wie jüngst bei den ukrainischen Schlägen gegen russische Ölraffinerien – als „Unfälle“ zu verkaufen. Dennoch deutet zuletzt einiges auf eine gewisse Missstimmung in Russland hin – zumindest mancherorts und in gut informierten Kreisen.

Benzinkrise: Angriffe auf Raffinerien lassen sich nicht verbergen

So hat die durch ukrainische Angriffe ausgelöste Treibstoffkrise im Land für einigen Missmut gesorgt – die Preise für Benzin sind hoch, die Schlangen vor den Tankstellen lang und der neue ukrainische Marschflugkörper Flamingo bewirkt Verunsicherung.

Ein populärer Telegram-Kanal warnte jüngst davor, dass die russische Gas- und Ölindustrie zu einem russischen „Schwachpunkt“ werden könnte. Die meisten Raffinerien befinden sich im europäischen Teil des Landes – in Schlagdistanz der Ukraine und bald auch des neuen Flamingos. Der Marschflugkörper soll bis zu 3.000 Kilometer weit fliegen können. Es sei daher „praktisch unmöglich“ alle russischen Raffinerien vor künftigen Angriffen zu schützen, berichtete der Kanal „Nezygar“ nun nicht ohne Frustration.

The Insider: Unterstützung für russische Armee sinkt rapide

Missstimmungen gibt es mittlerweile jedoch auch mit Blick auf die laut Umfragen so beliebte russische Armee, wie ein Bericht des Investigativprojekts „The Insider“ aufzeigt.

Während die Streitkräfte zu Kriegsbeginn noch vehement von Freiwilligen unterstützt worden seien, sei die Bereitschaft der Russen, sich ehrenamtlich für die Armee einzusetzen, mittlerweile rapide gesunken, heißt es da. Selbst bisher sehr engagierte Helferinnen und Helfer „sprechen zunehmend von Enttäuschung und Erschöpfung“, berichtete „The Insider“.

Russen empfinden Putins Armee zunehmend als Bedrohung

Mittlerweile gelte die eigene Armee bei vielen Russen zudem als „nicht weniger bedrohlich als die ukrainischen Truppen“, da Russlands Streitkräfte vor allem in den Grenzregionen immer wieder Militäranlagen in Wohngebieten errichten würden – was die Gefahr für die Bewohner eklatant erhöhe.

Russische Soldaten in der Ukraine. (Archivbild)

Russische Soldaten in der Ukraine. (Archivbild)

Auch Spenden für die Armee gebe es mittlerweile kaum noch, schilderten manche Freiwillige den Journalisten. Die Russen hätten insbesondere in der Nähe der Grenze andere Probleme als die Armee zu unterstützen, sagte etwa eine Frau gegenüber „The Insider“. Dass „täglich Drohnen und andere über ihren Kopf fliegen – das macht Sorgen“, erklärte Natalja demnach.

„Jeden Tag ist es wie bei Squid Game: Wer ist der Nächste?“

„Jeden Tag ist es wie bei Squid Game: Wer ist der Nächste? Man sitzt einfach da und überlegt, wann man an der Reihe ist“, schilderte sie die Lage in den Grenzgebieten, in denen die ukrainischen Drohnenangriffe auf Ziele in Russland nicht verborgen bleiben. Das Schlimmste aber sei, dass sich der Krieg „endlos hinziehen könnte, wie Israel und Palästina – Jahrzehnte“, führte die Russin aus Brjansk aus. An eine schnelle Friedenslösung glaube sie nicht.

„Ehrlich gesagt, haben die Menschen hier in den Grenzregionen die Soldaten einfach satt. Sie sehen sie außerdem nicht mehr als Beschützer, sondern als Bedrohung“, erklärte unterdessen Ruslan, der ebenfalls zuvor als Freiwilliger die Armee unterstützt hatte.

„Wenn ihr unsere Soldaten seht, wechselt die Straßenseite“

Nun positionierten sich die Streitkräfte direkt neben Wohnhäusern. „Wenn dort eine HIMARS einschlägt, wird alles um sie herum ausgelöscht. Das ist beängstigend. Niemand möchte neben Militärstandorten leben“, schilderte der Mann die Lage im russischen Grenzgebiet. Eltern würden ihren Kindern mittlerweile sagen: „Wenn ihr unsere Soldaten seht, wechselt die Straßenseite“, führte der Mann aus Brjansk aus. „Ohne diesen Krieg gäbe es keines dieser Probleme. Weder in unserer Region noch in anderen“, lautete sein Fazit.

Russische Soldaten feuern mit einer Haubitze auf ukrainische Stellungen. (Archivbild)

Russische Soldaten feuern mit einer Haubitze auf ukrainische Stellungen. (Archivbild)

Auch in Belgorod gebe es kaum noch Bereitschaft, die russische Armee zu unterstützen, berichtete eine Frau namens Lera. „Das Interesse, dem Militär zu helfen, ist stark zurückgegangen, obwohl sie immer wieder darum bitten“, berichtete sie. Dass viele Soldaten mittlerweile ein Alkoholproblem hätten, sei nicht übersehbar.

Alkohol in der Armee: „Niemand weiß, wie man damit umgeht“

„Niemand weiß, wie man damit umgeht“, zeigte sich die Russin wenig hoffnungsvoll angesichts des Zustands der Truppen. Natürlich würden die Kämpfer viele schlimme Dinge erleben – und dann zur Flasche greifen, „weil sie es nicht mehr ertragen können“. Andererseits sei der enorme Alkoholkonsum der Soldaten an der Front eine Gefahr. „Und wenn sie zurückkommen, lassen sie sich völlig gehen“, berichtete die Frau weiter.

Dass der Krieg niemanden „unversehrt“ lasse, sei bereits nach früheren russischen Kriegen klar gewesen, erklärte Lera weiter – und erinnerte sich schließlich an die Worte eines Sicherheitsbeamten, der bereits viele Kriege erlebt habe. „Der Schlimmste ist der in der Ukraine“, habe der Soldat ihr berichtet, erklärte die Frau – und fügte an: „Manche sagen, Putin wird für diese Entscheidung in der Hölle schmoren.“

Kein Kurswechsel im Kreml erkennbar

Im Kreml deutet unterdessen weiterhin nichts auf einen Kurswechsel hin – die jüngsten Friedensbemühungen von US-Präsident Donald Trump wies Moskau deutlich zurück und bekräftigte die eigenen Kriegsziele, die weiterhin einer ukrainischen Kapitulation gleichkommen. Auch einem Treffen zwischen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und Kremlchef Putin erteilte Moskau zuletzt eine Absage.

In den TV-Studios drohen die Propagandisten derzeit mal wieder mit russischen Feldzügen gegen Europa. Die Missstimmung aus den Grenzgebieten, die durch den „The Insider“-Bericht offenkundig wird, scheint in Moskau und bei der Mehrheit der russischen Gesellschaft bisher nicht angekommen zu sein. Im Juni, so die neusten verfügbaren Daten des Lewada-Instituts, zeigten sich immer noch 86 Prozent der Russen zufrieden mit Putin und seinem Kriegskurs.