Militärökonom im InterviewHat Putin den Ukraine-Krieg wirklich schon strategisch verloren, Herr Keupp?

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Ukrainische Soldaten laden während eines Ausbildungskurses am Flugabwehrsystem Patriot an einem Standort der Bundeswehr Container für ein Startgerät um.

Ukrainische Soldaten bei der Ausbildung mit Containern für einen Patriot-Raketenstartet: Das Land braucht dringend weitere Luftabwehrsystem.

Der Militärökonom Marcus Matthias Keupp sagt, was das US-Hilfspaket bewirken könnte. Welches Problem Putin und Hitler gemeinsam haben. Und warum er weiter glaubt, dass Russland strategisch im Herbst 2023 verloren hat.

Herr Keupp, der US-Kongress hat ein Ukraine-Hilfspaket mit über 60 Milliarden Dollar bewilligt. Wie lange hält das überhaupt, wie sehr hilft es der Ukraine?

Viele Leute glauben fälschlicherweise, dass das eine Art Bargeldlieferung sei, die an die Ukraine ginge. So funktioniert das Ganze ja nicht. Sondern das US-Verteidigungsministerium bekommt dieses Budget, damit es den Rüstungsfirmen Aufträge erteilen kann. Das heißt: Aus amerikanischen Lagern werden vorhandene Waffen und Artilleriemunition an die Ukraine geliefert, und die US-Rüstungsfirmen produzieren nach – natürlich moderneres Material. Das Hilfspaket ermöglicht langfristige Lieferverträge, nicht nur Bestellungen kleiner Chargen für den Moment. Bei manchen Systemen hat man das früher schon so gemacht, bei GLSDB-Gleitbomben zum Beispiel oder bei der Anti-Radar-Rakete HARMS. Jetzt geht es darum, neue langfristige Produktionslinien für alle Waffensysteme, also insbesondere auch für die Artilleriemunition, aufzubauen.

Wird die Nachlieferung für die Ukraine denn schnell genug kommen? Das Land hat großen Mangel an Luftabwehrsystemen und Munition.

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Genau. Und da gibt es eine zweite Grundlage, die man verstehen muss. Es ist nicht so, dass alles erst aus Amerika rübergeschoben werden muss, sondern es gibt auf der ganzen Welt das System der APS, also Army Prepositioned Stocks. Wir haben hier in Europa APS-Region 2. Einige Lager gibt es in Deutschland, zum Beispiel in Dülmen. Von dort kann Material sofort ausgeliefert und via Poznań und Rzeszów in die Ukraine verschoben werden. Das hat jetzt schon, unmittelbar nach Verabschiedung des Pakets, begonnen. Aber natürlich wird auch Material aus anderen Räumen zusammengezogen, Bradley-Schützenpanzer etwa sind in der Vergangenheit per Schiff aus den USA gekommen. Die Ukraine selbst hat ein Team, das feststellt, wo in Europa Rüstungsgüter wie Patriot-Batterien stehen, die im Moment nicht gebraucht werden.

Wenn die Ukraine sagt, diese Patriot-Batterie etwa aus Griechenland könnten wir gut brauchen, wird die Begeisterung dort nicht groß sein.

Es kommt darauf an, welchen Staat Sie fragen. Die Slowakei, früher einer der größten Unterstützer der Ukraine, hat sich politisch komplett umgedreht. In Tschechien ist es genau umgekehrt, die sind jetzt geradezu fanatische Unterstützer der Ukraine. Man muss aber auch sehen, dass die Welt in den letzten Wochen eine wichtige Lektion gelernt hat, nämlich: Wenn die westliche Unterstützung aufhört, dann hört die Ukraine auf. In den letzten zwei Wochen hat die Front an einigen Stellen durchaus gewackelt. Da stellt sich die Frage: Was steht hier eigentlich für alle auf dem Spiel? Wenn Sie stark militarisierte Staaten wie Griechenland oder die Türkei ansehen, die relativ nah am Kampfraum sind, dann würde ich mir an deren Stelle schon überlegen, ob Patriots für Kiew da nicht eine gute Investition wären.

Putin hat das gleiche Problem wie Hitler. Er muss in der kurzen Frist gewinnen. Denn auf lange Sicht hat er gegen das Industriepotential des Westens keine Chance.

Die Russen produzieren natürlich auch nach. Wer kann in diesem Krieg länger durchhalten?

Putin hat das gleiche Problem wie Hitler. Er muss in der kurzen Frist gewinnen. Denn auf lange Sicht hat er gegen das Industriepotential des Westens keine Chance. Das ist der Grund, warum er so massiv Systeme und Menschen verbrennt an der Front. Er will eine Entscheidung, bevor die ganze gewaltige Rüstungsindustrie in der gesamten westlichen Welt anläuft. USA, Südkorea, Pakistan, ganz Westeuropa produzieren gegen ihn. Da hat er keine Chance. Laut Internetportal Oryx hat Russland bis jetzt etwa 2930 russische Kampfpanzer verloren, insgesamt sogar über 15.000  mechanisierte Systeme. Die Folge: Die russische Kampfführung wird technologisch immer schlechter. Als der Krieg 2022 losging, haben sie mechanisierte Angriffe mit Bataillonsgruppen geführt, die vielleicht je 30 Kampfpanzer plus Schützenpanzer plus Logistik hatten. Heute schicken sie die Leute vor mit uralten T62-Panzer ohne Geschützturm und teilweise in Golfkarts. Dazu Fleischangriffe, Infanterie, die ohne Rücksicht auf Verluste da reingeschickt wird. Nun hat Russland noch viele Systeme auf Lager. Aber die einsatzfähige Reserve, die vor dem Krieg da war, das sind eben diese rund 2900 Stück, die jetzt weg sind. Jetzt werden immer ältere Systeme aus den Lagern geholt. Wenn man Satellitenfotos von Artillerielagern sieht, dann fehlen da plötzlich die Rohre. Die Systeme werden ausgeschlachtet. Der ukrainische Geheimdienst hat am 13. April eine Studie veröffentlicht und schätzt, es dauere bei der derzeitigen Abnutzungsrate noch ungefähr bis Mitte 2026, bis Russland komplett auf Null ist. Ich würde sagen, 2024 und 2025 kann Russland den Krieg sicher noch weiter führen. Aber es bekommt zunehmend ein Zeitproblem. Das merken Sie auch daran, dass die Kreml-Papageien wieder ganz laut zu krähen beginnen mit den üblichen Parolen: über Frieden verhandeln, die Ukraine kann nicht gewinnen. Und so weiter.

Aber das alles setzt ja voraus, wie Sie sagen, dass der Westen seine ganze Industriekapazität einbringt. Wird er das denn tun?

Das passiert schon. Aber wir starten von einem niedrigen Niveau aus. Zwischen 1991 und 2021 hat sich Europa quasi selbst demilitarisiert, entsprechend gering waren die Kapazitäten der Rüstungsindustrie. Im Kriegsfall hätte die Bundeswehr nur Munition für zwei Tage. Genauso war es in den USA 1941, bei Eintritt in den Zweiten Weltkrieg. Es hat Jahre gedauert, die US-Rüstungsindustrie hochzufahren. Das Maximum war erst 1945 erreicht, zum Kriegsende.

Was Putin da macht, haben schon die Zaren gemacht und dann Marschall Schukow im Zweiten Weltkrieg. Wenn bei einer Angriffswelle 30 000 fielen, war ihm das egal, am Ende konnten sich die Überlebenden auf neuen Positionen festsetzen.

Wir haben viel über Waffensysteme und Rüstungsindustrie gesprochen. Aber zu allen Systemen gehören die Soldaten, die sie bedienen. Russland hat alle Möglichkeiten einer Diktatur, Leute an die Front zu schicken. Wie lange kann die Ukraine dem standhalten?

Was Putin da macht, haben schon die Zaren gemacht und dann Marschall Schukow im Zweiten Weltkrieg. Wenn bei einer Angriffswelle 30.000 fielen, war ihm das egal, am Ende konnten sich die Überlebenden auf neuen Positionen festsetzen. Und natürlich kann Putin sich die Armut in der russischen Provinz zunutze machen, also Menschen in die Armee locken, indem er sehr hohe Löhne anbietet. Allerdings sieht man in den Statistiken über russische Kriegstote auch gut ausgebildete Leute wie Fallschirmjäger, Artilleristen oder Panzerfahrer zunehmend ausfallen. Die russische Armee wird also von ihren Fähigkeiten her immer schlechter, aber natürlich ist die pure Masse für die Ukraine ein Problem. Sie hat nicht genug Artillerie, um diese Vorstöße zu bekämpfen. Also gibt sie langsam Gelände auf und versucht, die Russen dabei ausbluten zu lassen. Aber es ist klar: Wenn Russland so weitermacht, wird die Ukraine irgendwann mobilisieren müssen, auch wenn das für eine Demokratie schwierig ist. Vergessen wir nicht, die Ukraine hat eine aktive Reserve von einer Million Mann. Sie hat also noch sehr, sehr viel Potenzial. Im Augenblick ist es für sie aber günstiger, auf Abnutzung zu setzen.


Zur Person Dr. Marcus M. Keupp

Dr. Marcus M. Keupp ist Dozent für Militärökonomie der Militärakademie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Keupp hat in Mannheim und an der Warwick Business School (Coventry/London) studiert und sich nach seiner Promotion in St. Gallen dort auch 2013 habilitiert. Derzeit arbeitet er an einem Buch über die langfristigen Folgen des russisch-ukrainischen Krieges. (rn)


Parallel dazu hat die Ukraine russische Raffinerien angegriffen – und dann haben US-Vizepräsidentin Kamala Harris und später etwas verschlüsselt US-Verteidigungsminister Lloyd Austin gesagt, sie solle das nicht tun. Wenn sie den Angreifern nicht mal den Sprit entziehen darf, wie soll sie gewinnen?

Natürlich darf sie, Raffinerien sind legitime militärische Ziele. Interessanterweise hat Kiew zuletzt nicht die beiden großen Export-Ölhäfen in Ust-Luga bei St. Petersburg und in Noworossijsk am Schwarzen Meer angegriffen, sondern Raffinerien, die der russischen Binnenversorgung dienen. Deshalb gehen Sorgen über die Ölpreise auch fehl. Russland fördert pro Tag elf Millionen Barrel, acht davon gelangen weiterhin auf den Weltmarkt, die restlichen drei Millionen sind für die Selbstversorgung – und dort sind auch die Treibstofflieferungen für die Armee enthalten. Außerdem sind die USA derzeit großzügig, was die Sanktionen gegen Iran und Venezuela angeht. Ich sehe nicht so richtig, was die ökonomischen Sorgen begründet, die US-Beamte da angeblich geltend machen.

Sie hatten vor einem Jahr gesagt, im Herbst 2023 werde Russland den Krieg strategisch verloren haben. Bleiben Sie dabei?

Ja, ich bin nach wie vor dieser Ansicht. Putin macht weiter, obwohl er den Krieg eigentlich im Herbst 2023 hätte abbrechen müssen. Spätestens dann war ersichtlich, dass die Produktions- mit der Abnutzungsrate nicht schritthalten kann. Bei unveränderter Kampfführung wird diese hohe Abnutzungsrate Russland an einen Punkt führen, an dem es militärisch nicht mehr leistungsfähig ist. Was dann? Welche Gewaltmittel halten Russland noch zusammen, wer sichert die Grenzen, wer unterdrückt die ethnischen Konflikte? Die Logik der Abnutzung hängt nicht von irgendeiner Weltanschauung ab. Es ist eine Frage der Logistik, wie im Zweiten Weltkrieg: Es gewinnt, wer langfristig das höhere Industriepotenzial hat und länger durchhält. Und ich glaube, dass Putin das erkannt hat. Deshalb versucht er ja, die westliche Logistikbasis zu sabotieren, indem er Länder politisch umdreht und auf der deutschen Gefühlsklaviatur spielt, damit die Deutschen Angst bekommen. Interessanterweise hat genau im Oktober 2023 die Blockade des US-Hilfspakets begonnen, ebenso wie das Einwirken auf die Slowakei. Aber wenn die westliche Logistikbasis immer weiter nachschiebt, dann wird Russland den Krieg nicht nur nicht gewinnen, sondern verlieren. Mit allen Konsequenzen, die das für die innere Organisation Russlands hat.

Marcus Matthias Keupp, Militärökonom, Schweizerische Militärakademie/ETH Zürich

Dr. Marcus Matthias Keupp ist Dozent für Militärökonomie der Militärakademie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Keupp hat in Mannheim und an der Warwick Business School (Coventry/London) studiert und sich nach seiner Promotion in St. Gallen dort auch 2013 habilitiert. (rn)

Aber wenn Sie von inneren Konsequenzen sprechen: Könnte Putin den Krieg überhaupt noch beenden? Hätte er innenpolitisch die nötige Stärke?

Er müsste erst recht um seine Macht fürchten, wenn der Krieg noch länger dauert und dann zum Beispiel ethnische Aufstände losgehen. Er könnte durchaus sagen, ich rette, was ich retten kann, und den Krieg beenden. Das würde vielleicht dazu führen, dass er selbst die Macht verliert und sein Nimbus als Retter Russlands weg wäre. Russland würde wirtschaftlich absteigen und müsste sich intern wieder konsolidieren.  Aber die Herrschaft der Silowiki, also der Gruppe, die Russland derzeit führt, die ginge weiter. Also: Der Krieg kann beendet werden. Das ist eine Entscheidung, die Putin jeden Tag treffen kann.

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