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Proteste gegen CoronaWie gefährlich die „Querdenker“ wirklich sind

Lesezeit 7 Minuten
querdenker demo

Teilnehmer einer Demonstration in Frankfurt

  1. Corona-Proteste: Die Demonstrationen von Impfgegnern und „Querdenkern“ gegen die Pandemie-Politik nehmen zu – und sie werden gewalttätiger.
  2. Ein Blick in den Messenger-Dienst Telegram zeigt: Von einigen der Corona-Leugner geht akute Gefahr aus.

„Ganz ehrlich, es wird Zeit, dass der Reichstag brennt. Friedliches Demonstrieren bringt rein gar nichts“, schreibt ein Mann. Und ein anderer behauptet: „Das Grundgesetz interessiert diese Verbrecher und bewaffneten Söldner schon lange nicht mehr. Wir leben in einem Faschismus.“ Diese beiden Nachrichten sind in einer öffentlich einsehbaren Chat-Gruppe beim Online-Kurzmitteilungsdienst Telegram zu finden – einer Gruppe mit dem Namen „Eltern stehen auf“.

Dahinter steckt eine gleichnamige Elterninitiative, die im Juli 2020 gegründet wurde. Schaut man auf die Webseite dieser Initiative, ist dort zu lesen: „Wir setzen uns für Informationen und eine freie, gesunde Entwicklung der Kinder und Menschen ein.“ Man wolle Familien im Umgang mit den Maßnahmen der Corona-Schutzverordnungen, in der Auseinandersetzung mit Institutionen, die ihre Kinder betreffen, sowie im öffentlichen Leben unterstützen.

„Zeit, dass der Reichstag brennt“

Was zunächst einen friedlichen Anschein macht, klingt bei den Mitgliedern der Telegram-Gruppe jedoch ganz anders. „Was Scholz gestern vom Stapel gelassen hat, ist ne Kriegserklärung, nichts anderes“, heißt es dort mit Bezug auf die Ministerpräsidentenkonferenz vom 30. November, die weitere Einschränkungen für Ungeimpfte beschloss. Jemand anderes fordert: „Nieder mit der Regierung.“ Es gibt noch drastischere Wortmeldungen, bis hin zu kaum verhohlenen Aufrufen zu Gewalt gegen Politiker.

Niemand widerspricht, niemand moderiert, im Gegenteil – die Gruppenmitglieder feuern sich gegenseitig weiter an: „Es bewegt sich einiges, haltet durch, es kann kippen, wenn die Geimpften mitbekommen, dass es nie enden wird.“ Und zwischen diesen extremen Aussagen sind immer wieder Sorgen um die Kinder zu lesen: „Es geht um Diskriminierung, aber vor allen Dingen um unseren größten Schatz, die Kinder. Es reicht: Wo sind die Löwenväter und Löwenmütter?“

Auch auf der Webseite von „Eltern stehen auf“ tummeln sich Verschwörungsnarrative, getarnt als seriöse Information. Die Corona-Impfung wird dort als „Gen-Therapie“ bezeichnet – eine Anspielung auf den Mythos, die Impfung mit einem mRNA-Vakzin verändere das Erbgut des Menschen. Anderswo bezeichnet die Initiative „Maskenpflicht, soziale Isolation und Testpflicht in Schulen“ als „physische und psychische Gewalt“ und als „Folter“.

Widerstand gegen angebliche Diktatur und Propaganda

Bei Telegram finden sich zahlreiche solcher Gruppen, die gegen die Corona-Maßnahmen oder die Impfung wettern – und sich Gewalt- und Verschwörungsfantasien hingeben. In manchen ist immer wieder die Rede von einer angeblichen Diktatur, in der wir gerade leben, oder von einer „entmenschlichenden Propaganda“. Wie gefährlich ist ein solch ungehemmtes Schreiben in Messenger-Gruppen?

Der niedersächsische Verfassungsschutz-Präsident Bernhard Witthaut warnt im Gespräch mit unserer Redaktion vor einer weiteren Radikalisierung der Corona-Leugner-Szene. Er verweist auf den Tankstellen-Mord in Idar-Oberstein, bei dem ein junger Angestellter von einem Kunden erschossen wurde, nachdem er diesen auf die Pflicht zum Tragen einer Maske hingewiesen hatte. „Das ist ein extremes Beispiel, wohin sich diese Radikalisierung bei Einzelpersonen entwickeln kann.“ Die Gefahr vergleichbarer Taten sei real, betont Witthaut.

Der Terrorismus-Forscher Peter Neumann hält es sogar für möglich, dass von den Protesten in naher Zukunft terroristische Gefahren ausgehen. Es habe schon vereinzelt „komplexere Anschläge“ auf das Robert-Koch-Institut oder auf Kliniken und Impfstellen gegeben, so Neumann. Er könne sich vorstellen, „dass wir in einigen Monaten tatsächlich möglicherweise von einer terroristischen Kampagne sprechen müssen“.

Auch Gewalt scheint hier ein angemessenes Instrument

Beunruhigt sei er über Hinweise, „dass sich schon Leute konkret darauf vorbereiten, Gewalt nicht nur zu rechtfertigen, sondern sie auch zu ergreifen“. Neumann zeigt sich überzeugt, dass die Diskussion über eine Impfpflicht und das Impfen von Kindern zu einer weiteren Radikalisierung führen werde: „Das sind zwei hochemotionale Themen, die von der Szene als Signal gewertet werden, und die als Trigger dienen können, als Auslöser von extremen Handlungen.“

Viele vehemente Gegner der Corona-Maßnahmen, darunter die Anhänger der sogenannten „Querdenker“, sehen die Lage ganz anders. Sie bezeichnen sich in den diversen Gruppen immer wieder als Kämpfer für die Freiheit, als diejenigen, die eigentlich für Frieden stehen, als Unterdrückte und Verfolgte. Sogar vor Vergleichen mit der Judenverfolgung während der NS-Zeit schrecken sie nicht zurück.

Die „Querdenker“ stellten sich als kritische Experten und heroische Widerstandskämpfer dar, erklärt auch die Soziologin Nadine Frei. Als Eingeweihte glaubten sie, über ein höheres Wissen zu verfügen und die wirklichen Beweggründe der staatlichen Maßnahmen zu kennen.

Hintergrund der „Querdenker“ ist regional sehr verschieden

Doch die Beweggründe für den radikalen Widerstand gegen die staatliche Corona-Politik sind nicht überall gleich. Soziologen der Uni Basel haben im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung die Verbindungen der „Querdenker“ in ihrem Ursprungsland Baden-Württemberg zu früheren Protestbewegungen untersucht. Demnach ticken die Mitglieder im Südwesten ganz anders als im Osten der Republik. Der Anteil von AfD-Wählern ist dort in der Bewegung viel höher als in Westdeutschland, so die Studie. Dafür gibt es im Südwesten doppelt so viele ehemalige Grünen- und Linken-Wähler unter den Protestlern wie im Osten. In Sachsen seien die Proteste stärker von der extremen Rechten geprägt und trügen deutlich weniger esoterische Züge. Viele Teilnehmer der Bewegung hätten sich aber allgemein von den Kerninstitutionen der liberalen Demokratie entfremdet. Sie wählten heute die AfD oder gar nicht mehr.

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Für den Südwesten führt die Studie die Corona-Proteste vor allem auf das anthroposophische Milieu zurück. Individualität und Naturverbundenheit seien darin starke Bezugspunkte. Dieser Zusammenhang sei kein Zufall, sagt auch der Journalist Oliver Rautenberg im Gespräch mit unserer Redaktion. Er beschäftigt sich auf seinem Blog intensiv und kritisch mit der Anthroposophie. „Viele Esoteriker unterliegen dem Fehlschluss, dass alles Natürliche immer gut ist und alles Künstliche immer schlecht. Diese dualistische Unterteilung in Gut und Böse ist grundsätzlich ein Merkmal von Verschwörungsmythen“, sagt er.

Einige Waldorfschulen, Homöopathen und andere Anthroposophen machten zum Teil massiv Front gegen Corona-Schutzmaßnahmen, so der Journalist. Konkret gehe es darum, dass man die Freiheit haben möchte, alternative Fakten unwiderlegt behaupten zu dürfen. Rautenbergs Schlussfolgerung lässt befürchten, dass bedrohliche Aufmärsche vor den Häusern von Politikern und gewalttätige Übergriffe bei Protesten – wie am vergangenen Wochenende – tatsächlich erst der Anfang einer weiteren Radikalisierung gewesen sein könnten: „An der aktuellen Impfquote sieht man, wie viele Menschen für Fakten gar nicht mehr erreichbar sind.“ (mit dpa/kna)

Hintergrund zu Telegram: Die Plattform der Verschwörer

Der Messenger-Dienst Telegram hat den Ruf, jegliche Inhalte ohne Moderation zuzulassen. Die Größe von Gruppen oder das Weiterleiten von Nachrichten sind so gut wie nicht beschränkt, anders als etwa auf Whatsapp. Das hat vor allem während der Pandemie Akteure angezogen, die auf Plattformen wie Youtube oder Facebook wegen gesundheitlichen Falschinformationen oder verhetzenden Inhalten gesperrt wurden.

Neben Einzel- und Gruppen-Chats gibt es auf Telegram auch Kanäle, die öffentlich einsehbar sind. Ähnlich wie bei Twitter-Profilen sendet hier der Kanalbetreiber seine Botschaften an eine beliebig große Zahl von Abonnenten. Die Richtlinien von Telegram verbieten zwar, in öffentlichen Kanälen zu Gewalt aufzurufen. Zu Sanktionen oder Löschungen kommt es aber nur äußerst selten.

Gegründet wurde Telegram 2013 vom russischen IT-Unternehmer Pawel Durow (Foto) und seinem Bruder Nikolai. Der kostenlose Dienst hat nach eigenen Angaben weltweit etwa 500 Millionen aktive Nutzer. Als Sitz des Unternehmens gilt Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten, eine Verbindung nach Russland existiert laut Telegram nicht. Durow betont immer wieder, dass sein Dienst keine kontroversen Inhalte etwa zu Corona lösche oder Daten an Behörden weitergebe.

In Deutschland verpflichtet das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) Betreiber von sozialen Netzwerken mit mindestens zwei Millionen Nutzern, eine Möglichkeit zur Beschwerde anzubieten sowie strafbare Inhalte wie etwa Hasskriminalität zu bekämpfen. Ab 2022 müssen die Betreiber dem Bundeskriminalamt rechtswidrige Inhalte außerdem melden. Für Telegram gilt das aktuell allerdings noch nicht.

Im laufenden Jahr ging das Bundesjustizministerium bereits mit zwei Bußgeldverfahren gegen Telegram vor. Grund sei, dass Möglichkeiten zur Beschwerde über strafbare Inhalte nicht leicht erkennbar und erreichbar seien. Nach Auffassung des Ministeriums könnte Telegram schon jetzt den Anforderungen des NetzDG unterliegen. Ein Sprecher verweist auf die Möglichkeit der öffentlichen Gruppen und Kanäle, die über Suchmaschinen auffindbar seien und Zehntausende erreichten. (dpa)