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SPD zerfleischt sich selbstWie Flügelkämpfe zum „Super-GAU“ in Berlin führen

7 min
Neuköllns Bezirksbürgermeister und SPD-Landesvorsitzender Martin Hikel

Neuköllns Bezirksbürgermeister und SPD-Landesvorsitzender Martin Hikel

Nach nur 68,5 Prozent bei der Aufstellungsversammlung verzichtet der Bezirksbürgermeister auf eine erneute Kandidatur. Hinter dem Eklat stehen jahrelange Machtkämpfe.

Die Neuköllner SPD steht nach dem Wahldebakel am Wochenende und der Absage von Martin Hikel an eine erneute Kandidatur als Bezirksbürgermeister vor einem Scherbenhaufen. Mitglieder sprechen von einem „Super-GAU“.

68,5 Prozent hatte Hikel für seine erneute Kandidatur als Bezirksbürgermeister von seinen eigenen Leuten am Samstag bekommen. Das reichte ihm nicht. Das Ergebnis gebe ihm nicht ausreichend Rückenwind für einen erfolgreichen Wahlkampf, sagte er im Anschluss als Begründung dafür, nicht erneut antreten zu wollen. Wie konnte es dazu kommen?

Machtkämpfe innerhalb der Neuköllner SPD

Wer das verstehen möchte, stößt auf tiefgreifende strukturelle Veränderungen in der Neuköllner SPD, auf inhaltliche Grabenkämpfe, persönliche Zerwürfnisse und auf Machtkämpfe zwischen Parteilinken und Konservativen, die für Außenstehende kaum noch nachvollziehbar sind. Ein Sozialdemokrat vergleicht die Lage mit zwei Zügen, die sich aufeinander zubewegt hätten. Bremsen wollte keiner.

Uneinigkeit über Wahlergebnisse und Konsequenzen

Was konkret zu dem Eklat geführt hat, darüber kursieren unterschiedliche Erzählungen in dem Kreisverband. Aus dem Umfeld von Hikel heißt es, es sei völlig klar gewesen, dass dieser ein solch schwaches Ergebnis als rote Linie ansehe. „Hikel sollte für die Parteilinken die Wahl gewinnen, aber sie wollten ihm einen mitgeben“, sagt ein Mitglied mit Parteiposten. „Sie wollten ihm zeigen, dass sie ihn fortan an die kurze Leine nehmen wollen.“ Hikel habe dem Kreisparteivorstand klar gesagt, dass er sich ohne ein Zeichen der Geschlossenheit bei der Wahl zurückziehen werde, sagt ein anderes Mitglied.

Linke Vertreter schildern das anders: Im Vorfeld habe das Hikel-Lager signalisiert, dass ein Ergebnis von zwei Drittel Zustimmung in Ordnung sei. Außerdem teilen mehrere Genossen nicht die Einschätzung, dass es sich um ein katastrophales Ergebnis handele. „In der Berliner SPD habe ich schon deutlich schlechtere Ergebnisse gesehen“, sagt einer, der wie viele weitere Gesprächspartner nicht öffentlich genannt werden will.

Vergleich zu Lars Klingbeils Wiederwahl

Mehrere Personen verweisen auf Lars Klingbeil, der im Sommer auch mit nur 68,9 Prozent als Parteichef wiedergewählt worden sei – und trotzdem weitergemacht habe. Allerdings: Bei Klingbeil ging es nicht darum, in einen Wahlkampf zu ziehen.

Laut übereinstimmenden Berichten aus der Partei eskalierte die Parteiversammlung schrittweise: Nachdem Derya Çağlar vom pragmatischen Flügel und Marcel Hopp vom linken Flügel noch sehr gute Ergebnisse für die vorderen Listenplätze zur Abgeordnetenhauswahl bekommen hatten, fielen die Ergebnisse für Charlotte Mende und Joachim Rahmann, beide ebenfalls vom linken Flügel, schlechter aus.

Daraus sprach auch der Frust vieler SPD-Pragmatiker, dass Franziska Giffey als prominenteste Vertreterin der Neuköllner SPD bei der Listenaufstellung komplett übergangen wurde. Für zusätzlichen Unmut sorgte, dass Rahmann, der gemeinsam mit Çağlar Vorsitzender der SPD Neukölln ist, sich den Wahlkreis 5 gegen den Willen zweier Ortsverbände sicherte. Das habe „ganz, ganz viel Öl ins Feuer gegossen“, sagte ein SPD-Mann. Die Linken fühlten sich von den schlechten Ergebnissen für Mende und Rahmann offenbar provoziert und straften ihrerseits Hikel ab.

Uneinigkeit über Hikels Entscheidung

Dass dieses Ergebnis dem SPD-Politiker nicht ausreichte, bezeichnen manche als konsequent – andere „nicht nachvollziehbar“. Flügelübergreifend gibt es am Montag Äußerungen, die Hikels Entscheidung als problematisch bezeichnen – gerade auch, weil er als Landesvorsitzender eine Verantwortung für die Gesamtpartei habe.

Fakt ist: Hikel und der immer stärker werdende linke Parteiflügel haben sich über Jahre entfremdet. Für manche linke Sozialdemokraten gilt Hikel inzwischen als eine Reizfigur. Viele zentrale Figuren aus seinem eigenen Kreisverband unterstützten im internen Ringen um den Parteivorsitz 2024 die linke Kandidatur von Kian Niroomand und Jana Bertels, nicht die Kandidatur der Pragmatiker Nicola Böcker-Giannini und Hikel, die sich am Ende in der Mitgliederbefragung durchsetzten. Linke Genossen wollten, dass Hikel antimuslimischen Rassismus ebenso anprangert wie Antisemitismus. Hikel kämpfte ständig dagegen, dass beides gleichgesetzt wird. Beim Landesparteitag im Mai sagte er, dass die Gefahr für Juden, aufgrund ihrer Identität angegriffen zu werden, statistisch 27 Mal höher sei als bei Muslimen. Er sagte: „2023 gab es 5177 antisemitische Übergriffe deutschlandweit. In Deutschland leben rund 200.000 Jüdinnen und Juden. Zum Vergleich: Es gab 1577 muslimfeindliche Übergriffe deutschlandweit, jeder einzelne ist schlimm, bei 5,5 Millionen muslimisch Gläubigen in Deutschland.“

Kontroversen um Hikels Engagement und Interviews

Dass er 2023 dem rechtskonservativen Magazin „Cicero“ ein Interview gab, nehmen die Parteilinken ihm heute noch übel. Auch an den Verbundeinsätzen gegen Bars und Spätis mit Ordnungsamt, Polizei und anderen Behörden, an denen Hikel teilnahm, gab es heftige Kritik. Parteilinke meinen, Betroffene würden vorverurteilt und rassistischen Angriffen ausgesetzt. Dabei ist Neukölln deutschlandweit immer wieder in den Schlagzeilen. Der Bezirk gilt als Hochburg der Clankriminalität.

Mit seiner klaren Haltung beeindruckte Hikel allerdings andere umso mehr. Hudhaifa Al-Mashhadani, Generalsekretär des Deutsch-Arabischen Rates in Berlin und Rektor der Deutsch-Arabischen Schule Ibn Khaldun in Neukölln, äußerte sich am Sonntag zu den Vorgängen in der Neuköllner SPD: Hikel stehe für eine klare Haltung „gegen jede Form von Extremismus – ob religiös, politisch oder ethnisch motiviert“. Sein Rückzug wäre „ein erheblicher Verlust für Berlin und für das friedliche Zusammenleben in Neukölln“, sagte er.

Güner Balci, Integrationsbeauftragte in Hikels Bezirksamt, schätzt Hikel ebenso. „Martin Hikel ist einer der mutigsten Menschen, die ich kenne. Gemeinsam mit säkularen Muslimen im Bezirk kämpft er seit Jahren gegen Islamismus.“ Das habe Hikel viele Feinde eingebracht. Die extremistische Muslimbruderschaft und ihre Verbündeten versuchten Hikel zu diffamieren. Und kaum jemand habe auch „Hamas-Netzwerken und ihren Unterstützern angstfrei und entschlossen den Kampf angesagt“, sagte Balci. Doch Teile der SPD wollten nicht, dass islamistische Strukturen auch bekämpft werden. Die Bedrohungslage werde verharmlost. In der Partei agierten die Hikel-Kritiker schlimmer als die ärgsten Feinde. „Und sie machen das intensiv und im Schulterschluss mit Teilen der Landes-SPD“, sagt Balci.

Wandel innerhalb des Neuköllner SPD-Kreisverbands

Das Ringen um diese Positionen spiegelt eine inhaltliche Verschiebung innerhalb der Neuköllner SPD wider. Neukölln kann als Herzkammer der Berliner SPD bezeichnet werden: Seit 2001 wird der Bezirk von den Sozialdemokraten geführt.

Die SPD Neukölln galt historisch gesehen als konservativster Kreisverband in der Hauptstadt. Neuköllner Genossen hatten stets – wie Martin Hikel auch – Strahlkraft über Berlins Landesgrenzen hinaus. „Für die Konservativen ist es schwer zu ertragen, dass sich der Kreisverband wandelt“, sagt ein Parteilinker. Diesen Wandel verkörpert unter anderem Hakan Demir, der als klar links ausgerichteter Politiker für die Neuköllner SPD im Bundestag sitzt – und auch in seinem Kreisverband großen Einfluss ausübt. Co-Kreischef Rahmann, der ebenso klar links verortet ist, arbeitet für Demirs Bundestagsbüro als wissenschaftlicher Mitarbeiter.

Kommunikationsmängel und interne Spannungen

Neben inhaltlichen Streitfragen werfen mehrere Personen in der Partei Hikel auch vor, die Kommunikation nach innen vernachlässigt zu haben. Entscheidungen habe er oft einsam getroffen, ohne den Kreisverband dabei mitzunehmen. Wer so vorgehe, müsse mit Gegenwind rechnen.

Das Austarieren innerparteilicher Haltungen gehöre nicht zu seinen Stärken, sagen Personen, die Hikel schon viele Jahre kennen. Auch als Landesvorsitzender habe er sich kaum um den innerparteilichen Dialog bemüht. Interessant: Den Kritikpunkt hat Hikel mit Franziska Giffey gemein. Sie habe oft unterschätzt, dass sie die eigene Partei bei Entscheidungen mitnehmen müsse – das geben selbst Unterstützer zu.

Eskalationsspirale bei der Listenaufstellung

Dass die Eskalation am Sonnabend ihren Anfang bei der Aufstellung der Liste für das Abgeordnetenhaus nahm, ist kein Zufall: Angesichts miserabler Umfragewerte wird das Hauen und Stechen um aussichtsreiche Listenplätze größer – und die Machtkämpfe gnadenlos. Auch in anderen Bezirken gibt es dafür zahlreiche Beispiele.

Vielleicht lässt sich durch diese schwierige Grundsituation erklären, warum am Sonnabend mehrere, wenn auch nicht starke, aber passable Wahlergebnisse eine Eskalationsspirale in Gang setzen konnten, an deren Ende Hikels Entscheidung stand, nicht erneut für das Amt des Bezirksbürgermeisters anzutreten.

In Neukölln ist man nun bemüht, die Scherben aufzukehren. Intern gehe „die Post ab“, heißt es – es fänden „Dauerkrisenschalten“ statt. Am 29. November oder 6. Dezember soll die Kreisdelegiertenkonferenz, die am Sonnabend unterbrochen wurde, weitergehen. Bis dahin wollen die Kreisvorsitzenden eine geeignete Nachfolge für Hikel gefunden haben.

Das Chaos in Neukölln kommt zur Unzeit: Am Samstag findet der SPD-Landesparteitag statt.