Blitz-Lektüre in fünf SchrittenWas in den Schäuble-Memoiren steckt

Lesezeit 6 Minuten
Wolfgang Schäuble (CDU), damaliger Bundestagspräsident, spricht in einem Interview mit einem Journalisten der Deutschen Presse-Agentur in seinem Büro im Bundestag.

Wolfgang Schäuble (CDU), damaliger Bundestagspräsident, spricht in einem Interview 2021 mit einem Journalisten der Deutschen Presse-Agentur in seinem Büro im Bundestag.

Nur wenige Monate nach dem Tod des Christdemokraten sind seine Erinnerungen erschienen. Sie enthalten keine Indiskretionen, dafür aber Blicke hinter die Kulissen der Macht – und unerwartet Persönliches.

Bis kurz vor seinem Tod schrieb Wolfgang Schäuble seine Memoiren. Darin legt er offen, was Helmut Kohl ihm nach dem Attentat schenkte. Formuliert einen schweren AfD-Vorwurf an Angela Merkel. Und spricht als Badener sogar Schwäbisch. Eine Blitz-Lektüre in fünf Schritten.

Der Sound

Dass man Dialekte auch im Schriftdeutsch hören kann, weiß man seit Goethe, dem ja hin und wieder Verse unterliefen, die sich nur auf Hessisch reimen (Faust II: „Neige, neige / Du Strahlrenreiche“…).

Auch in den Memoiren Wolfgang Schäubles, der in Freiburg geboren wurde und im vergangenen Dezember in Offenburg starb, lassen sich sanfte sprachliche Färbungen nachweisen. „Ich tat mir (sic!) mit Englisch schwer“, bekennt Schäuble relativ zu Beginn seines Buchs „Erinnerungen. Mein Leben in der Politik“, das an diesem Montag erschienen ist.

Alles zum Thema Deutscher Bundestag

An anderer Stelle zitiert er mit spürbarer Genugtuung sein berühmtes Ultimatum an die Griechen auf dem Höhepunkt der Schuldenkrise 2015: „Am 28. Februar isch over.“ Und als Schäuble einmal seiner CDU nahelegt, mit ihren Positionen nicht der AfD hinterherzulaufen, begründet er es zwar inhaltlich mit der alten Talkshow-Weisheit, die Menschen würden in dem Fall lieber das Original wählen. Sprachlich aber drückt er es aus mit einem zwar nicht badischen, aber immerhin schwäbischen Sprichwort: „Man geht zum Schmied und nicht zum Schmiedle.“

All das sind auf den rund 650 Seiten dieser Erinnerungen aber Ausnahmen. Passagen wie die, in denen sich Schäuble „Klugscheißereien“ verbietet, belegen stattdessen: Der kann auch Hochdeutsch.

Die krasseste Legendenbildung

Dass Wolfgang Schäuble, er, der die Deutsche Einheit mitverhandelte, der Fraktionschef, Bundesminister, Bundestagspräsident war und bei dessen Trauerfeier der französische Staatspräsident sprach, dass dieser überlebensgroße Wolfgang Schäuble niemals Kanzler werden konnte - das störte ihn nicht im Geringsten. Schreibt Wolfgang Schäuble. „Ich halte daran fest: Die Frage, ob ich Kanzler werde oder nicht, hat mich nicht so sehr umgetrieben“, bemerkt er mit Blick auf die Bundestagswahl 1998, als Helmut Kohl trotz mieser Umfragewerte noch einmal antreten wollte.

Dass Schäuble es dennoch unternahm, in einem persönlichen Gespräch Kohl zum Verzicht auf die Kandidatur zu bewegen – „Helmut, ich glaube nicht, dass wir mit dir die Wahl noch gewinnen“ –, sei nur auf das Drängen anderer Parteigranden zustande gekommen, „Bernhard Vogel, Erwin Teufel, Kurt Biedenkopf, auch einige Jüngere“. Bekanntlich hat nicht nur Kohl selbst die Sache anders gesehen, und dass es immer nur andere waren, die ihn, den allzeit Demütigen, auf den Schild heben wollten, klingt zu arg nach Heiligenvita, um die ganze Wahrheit zu sein.

Zumal Schäuble selbst es später, als es um seine mögliche Nachfolge Johannes Raus als Bundespräsident geht, so ausdrückt: „Über die Geschichte dieser abgeblasenen Kandidatur ist viel geschrieben worden, oft genug mit der Unterstellung, dass hier schon wieder ein Lebenstraum geplatzt war. Das ist Unsinn. Nach diesem Amt hatte ich mich nun wirklich nicht gesehnt.“ Nach dem anderen, der Kanzlerschaft, so muss man es wohl verstehen, dann doch schon eher.

Das böseste Foul

Mit Angela Merkel geht Schäuble betont vornehm um. Lobt den persönlichen Umgang mit ihr, ihren Scharfsinn, ihren Humor, ihren politischen Instinkt und, ja, auch ihre Härte. Trotzdem lässt er durchblicken, dass er ihre Strategie der „asymmetrischen Demobilisierung“, das Verwischen vieler CDU-Konturen langfristig für fatal hielt.

Dass Merkel als Kanzlerin damit die AfD ermöglicht habe, diese These wird immer wieder vorgetragen. Schäuble aber dreht die Schraube noch weiter: Das Erstarken politischer Ränder habe regierungsfähige Mehrheiten ohne die Union als stärkste politische Kraft unmöglich gemacht. Das Aufkommen einer Partei am rechten Rand sei daher „für die strategische Position der Union als eher förderlich hingenommen“ worden, so Schäuble. Merkel oder zumindest ihre Leute hätten demnach den Aufstieg der AfD nicht nur nicht aktiv verhindert – sie hätten ihn insgeheim sogar begrüßt.

Ein heftiger Vorwurf, der allerdings nicht zwangsläufig unwidersprochen bleiben wird: Angela Merkel schreibt jedenfalls auch gerade an ihren Memoiren.

Die Leerstellen

Dafür, dass Schäuble seine Erinnerungen gemeinsam mit zwei Historikern geschrieben hat, ist die historische Detailfülle erstaunlich schmal. Schäuble ist kein Datums- oder gar Uhrzeits-Junky, auch die Beschreibung der handelnden Figuren oder der Orte beschränken sich auf das Nötigste. Eher Deutung ist hier die Absicht, die großen Linien, weniger die Kolportage.

Entsprechend gering dürfte der Erkenntnisgewinn für die Geschichtsschreibung sein: Selbst die vor wenigen Tagen vorab verbreitete Meldung, der frühere bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber habe in der Flüchtlingskrise 2016 Schäuble zum Putsch gegen Merkel treiben wollen, stand so schon vor Jahren im Bestseller „Die Getriebenen“ des Journalisten Robin Alexander.

Zur Schwarzgeldaffäre der CDU etwa, die Schäuble im Jahr 2000 den Parteivorsitz kostete und seine bereits begonnene Entfremdung von Kohl zur persönlichen Feindschaft werden ließ, erfährt der Leser nichts außer dem, was Schäuble nicht bereits früher dazu geschrieben und gesagt hätte. Es läuft letztlich auf die eine Beteuerung hinaus: Ich wusste von nichts.

Gerne hätte man auch erfahren, wie Schäuble über den bis heute rätselhaften Tod Uwe Barschels in der Genfer Hotelbadewanne denkt: 1987 war das, da war Schäuble Kanzleramtsminister. Aber was auch immer die deutsche Regierung darüber von den eigenen oder befreundeten Nachrichtendiensten in Erfahrung bringen konnte - Schäuble jedenfalls hat nun diese seine letzte Gelegenheit ausgelassen, der deutschen Öffentlichkeit davon zu erzählen.

Die bewegendsten Passagen

Oktober 1990. Der Wahlkampfauftritt in einer Brauerei im badischen Oppenau war gerade vorbei, eben noch hatten die Leute Schäuble zugejubelt für die buchstäblich erst vor wenigen Tagen vollzogene Deutsche Einheit, und nun war er, umringt von Anhängern auf dem Weg zum Ausgang, als aus nächster Nähe die drei Schüsse fielen. Eine Kugel traf Schäuble in die Wange, unterhalb des rechten Ohres, eine zweite in den Rücken, die dritte fing sein Leibwächter ab. Der Schütze: ein offenbar psychisch verwirrter Mann aus Schäubles Wahlkreis.

„Er war krank“, schreibt Schäuble. „So gesehen war das, was an diesem 12. Oktober 1990 mein Leben von Grund auf veränderte, ein Unfall – und ich habe fortan die Folgen der Krankheit eines anderen Menschen zu tragen.“ Zu seinen Besuchern im Krankenhaus zählten Oskar Lafontaine, der selbst erst kurz zuvor Opfer eines Attentats geworden war, und Helmut Kohl, der Schäuble ein Buch über den gelähmten US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt mitbrachte: als Motivation, dass man auch mit Behinderung als Spitzenpolitiker arbeiten könne.

Wie Schäuble danach über sein Leben im Rollstuhl nachdenkt, ist die beeindruckendste Passage des Buches. Wie seine Beine und Arme zuckten, wenn er zu lange in derselben Position sitzen musste, und wie er diese Spasmen hinter den Rednerpulten zu verbergen versuchte. Wie er bei Auftritten im Freien zu frieren begann in seinem Rollstuhl. Und wie all das die öffentliche Wahrnehmung seiner Figur geprägt hat, unweigerlich: „Meine Popularität über die vielen Jahre gründet auch in der sichtbaren Behinderung“, analysiert Schäuble ungerührt.

Und fügt hinzu: „Ich hätte gerne darauf verzichtet.“

Rundschau abonnieren