Interview zur FlutSchleidens Bürgermeister: „Hatte 500 Tote befürchtet“

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 Schleidens Bürgermeister Ingo Pfennings im Gespräch.

Schleiden – Über 17 Kilometer zieht sich eine Schneise der Verwüstung durch das Schleidener Tal: Von Oberhausen bis Gemünd hat die Flut vom 14. Juli gewütet. Seit der Katastrophennacht ist Bürgermeister Ingo Pfennings als Krisenmanager im Dauereinsatz. Über seine Erfahrungen spricht er im Interview mit Christoph Heup und Ramona Hammes.

Wie haben Sie den 14. Juli erlebt?

Am Morgen hatte ich mit Udo Schmitz, dem Leiter der Feuerwehr, und THW-Ortsverbandschef Daniel Schwarzer überlegt, wie der Tag wohl wird. Wir waren uns einig: Wir werden verdammt nass. Und es werden wohl Keller volllaufen. Aber wir sind vorbereitet – und die Menschen auch. Nachmittags habe ich sogar noch mit meinem Sohn die Kita besichtigt, die er ab kommender Woche besucht.

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Und dann kam alles anders ...

Gegen 19.40 Uhr war das Geschehen noch eher diffus. Bis 21 Uhr war die Lage dramatisch geworden, es galt, die Menschen aus größter Gefahr zu evakuieren.

Was haben Sie als Bürgermeister tun können?

Die erste Frage war: Wie können wir so schnell wie möglich so viele Leute erreichen wie möglich? Gegen 21 Uhr hat die Einsatzleitung das Auslösen der Sirenen zur Bevölkerungswarnung über die Leitstelle des Kreises angefordert – gegen 22.30 Uhr sind die endlich gelaufen. Zudem haben Feuerwehrfahrzeuge mit Lautsprechern die Menschen gewarnt.

Ich habe zum ersten Mal im Selfie-Modus ein Facebook-Video aufgenommen – das erste von dreien in dieser Nacht, um die Menschen auf dem aktuellen Stand zu halten. Nach dem Ausfall von Strom und Festnetz hat das Mobilfunknetz noch am längsten gehalten.

Wie haben Sie die dramatischen Stunden erlebt?

Ein Tiefschlag war, als unser Feuerwehrchef, der selbst Oberhausener ist, gegen 22 Uhr sagte, dass wir Oberhausen aufgeben müssen. Die Gesichter waren versteinert und jeder fragte sich: Was mag noch kommen?

Und es kam noch schlimmer ...

Wir konnten keine Einsatzkräfte mehr ins Wasser schicken, die Strömung war zu stark. Selbst einer der Evakuierungsbusse ist nicht mehr rausgekommen. Gegen Mitternacht mussten die Maßnahmen im gesamten Tal abgebrochen werden. Ich hatte völliges Vertrauen zur Feuerwehr, die haben professionell gearbeitet – obwohl alle selbst betroffen sind. Es ist erstaunlich, wie sehr man dann funktioniert. Die Hilflosigkeit hat aber alle erreicht, wir hatten keine Chance mehr und keine Ressourcen, um vor die Lage zu kommen.

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Ein Auto droht in Gemünd, der  einwohnerstärkste Orsteil von Schleiden, in die Urft zu stürzen. (Archivbild)

Und dabei ging es immer um Menschenleben. Viele haben wir retten können. Aber neun Menschen sind in dieser Nacht in der Stadt ums Leben gekommen. Ich hatte sogar befürchtet, dass es 500, 600 Tote werden, dass wir schlimmstenfalls die Menschen in ganz Malsbenden und Oberhausen verlieren.

Eintreffen des Wasserrettungszugs der DLRG war ein Lichtblick

Wie stellte sich die Situation am Morgen dar?

Katastrophal. Teile der Stadt waren nicht zu erreichen. Wir hatten einen massiven Ausfall von Strom und Internet, keinen Handykontakt in die betroffenen Zonen. Die Schäden an den Häusern kann keiner beschreiben: Zu hören „schwer beschädigt“ ist etwas anderes, als zu sehen, dass eine ganze Wand weggerissen ist.

Ein erster Lichtblick war das Eintreffen eines Wasserrettungszugs der DLRG am frühen Morgen. Noch bis gegen 23 Uhr am Donnerstag, mehr als 24 Stunden lang, lag der Fokus nur darauf, Menschen zu retten.

Auch die Verwaltung war dann gefragt ...

Neun von rund 60 Mitarbeitern waren an dem Morgen da. Mehr als die Hälfte der Mannschaft ist selbst betroffen, der Bauhof ist zerstört. Mangels Kommunikationsmitteln hatten wir keinen Kontakt zum Kreis. Bei uns hatte niemand Erfahrung, wie beispielsweise Hilfeersuchen korrekt gestellt werden. Es galt das Motto: Wir wissen nicht, ob das so geht, wir machen das mal.

Zuerst galt es, die Menschen ins Trockene zu bringen, ihnen medizinische Versorgung zu beschaffen. Unser Beigeordneter Marcel Wolter hat das in zwei Stunden organisiert: In den Höhenorten wurden die Unterkünfte eingerichtet. Es stellte sich aber heraus, dass die Menschen so schnell wie möglich in ihre Häuser zurückwollten – egal, wie die aussehen. Und es war klar, dass wir sie versorgen müssen.

Auch darum hat sich der Krisenstab gekümmert, den wir eingerichtet haben und in dem auch externe Fachkräfte – ehrenamtlich – mitarbeiten.

„Ich konnte meine Mutter und mein Kind nicht erreichen“

Für Sie waren diese Stunden doppelt schwer: Sie leben im ebenso schwer getroffenen Bad Münstereifel.

Ich konnte meine Mutter und mein Kind nicht erreichen. Das war... Ich wusste aber, dass ich nichts ändern kann und da auch Leute sind, die sich kümmern. Um 15 Uhr am Donnerstag bin ich kurz nach Hause gefahren. Bis dahin wusste ich nicht, ob meine Familie okay ist. Wir wohnen nur 50 Meter Luftlinie von der Schadenszone entfernt, aber zum Glück darüber.

Zur Person

Ingo Pfennings (CDU) ist seit Dezember 2018 Bürgermeister der Stadt Schleiden. Zuvor war der 36-Jährige aus Bad Münstereifel in einer Event- und Marketing-Agentur beschäftigt.

Eine Krise jagt in seiner noch jungen Amtszeit die nächste. Wenige Wochen vor seinem Amtsantritt hatte ein Feuer einen Millionenschaden am Städtischen Johannes-Sturmius-Gymnasium verursacht.

Ein Brandstifter hielt das Schleidener Tal monatelang in Atem. Zudem galt es, den Wiederaufbau des zerstörten Teils der Schule zu planen. Wenig später folgten die Herausforderungen der Corona-Pandemie, nun die der Flutkatastrophe.

Ohne externe Hilfe wären Sie nicht ausgekommen?

Niemals. Legendär war es schon, als all die Bauern, Lohnunternehmer etc. gekommen sind. In einer Affengeschwindigkeit haben sie die Wege soweit freigemacht, dass Rettungsfahrzeuge wieder durchkamen. Es ist einfach phänomenal, wie viel Hilfe kam, ohne dass wir sie gerufen haben. Auch das hat, neben Feuerwehr, THW und Bundeswehr, die Geschwindigkeit der ersten Tage ausgemacht.

Kann man denn die Bundeswehr einfach so rufen?

Nein, das haben wir lernen müssen. Soldaten aus Nörvenich hatten seit Freitagmorgen in Bereitschaft gesessen und waren nicht angefordert worden. Am Wochenende bin ich ihnen begegnet, als sie privat zum Helfen hier waren. Die hatten mich gebeten, mich dafür einzusetzen, dass sie auch offiziell helfen dürfen. Den halben Sonntag habe ich mich durch die Instanzen telefoniert, Schriftverkehr gemacht. Eigentlich war klar, dass montags 80 Soldaten aus Nörvenich kommen – und um 22 Uhr erhalte ich vom Landeskommando die Info: Ihr Einsatz ist nicht genehmigt. Begründung: Ihre Formulierung ist juristisch nicht haltbar.

Da bin ich mal kurz durch den Hörer gesprungen – ich war übermüdet und hatte kein Verständnis für juristische Formulierungen. Das hatte zur Folge, dass ich da wahrscheinlich unbeliebt bin – aber der Major konnte die Truppe am Montag hier antreten lassen.

Ihre Videobotschaften haben Sie über die Katastrophennacht hinaus fortgesetzt.

Ich hatte gehört, dass die Videos Menschen durch die Nacht gebracht haben, als sie ihre Familie oder Freunde nicht erreichen konnten. In Krisenzeiten ist Kommunikation das Wichtigste. Also habe ich mit meinem Handy wie bei einem Selfie jeden Abend eine Videobotschaft an die Schleidener gesendet.

Mit Facebook erreichen Sie aber längst nicht alle.

Am Sonntag war klar, dass noch viele, vor allem Ältere, in ihren zerstörten und kontaminierten Häusern sein müssen, die auf Hilfe warten. Wir haben mit dem Stichwort „Gefahr in Verzug, Menschenleben in Gefahr“ – ich wusste nicht, was ich noch Dringlicheres hätte melden sollen – Hundertschaften der Polizei angefordert, die mit THW-Kräften und Sanitätern von Haus zu Haus gehen sollen – und gewaltsam Türen aufbrechen, wenn sie niemanden antreffen oder niemand sagen kann, wo die Leute sind. Die haben wir um 9 Uhr angefordert, um 18 Uhr waren sie da. Aus Köln! Zum Glück wurden keine weiteren Toten gefunden.

Trotzdem: Deutschland ist bekannt für sein Organisationstalent. Aber vieles ist so starr, unflexibel und bürokratisch – da muss sich auch einiges ändern.

„Viele im Behördensystem sind nicht mehr gewohnt zu entscheiden“

Kehren Sie dabei auch vor Ihrer eigenen Haustür?

Damit tue ich mich schwer. Wer hätte diese Katastrophe vorhersagen sollen? Der Bürgermeister? Wenn er Geologe oder ähnliches ist – vielleicht. Als Land sind wir auf derartige Ereignisse scheinbar nicht vorbereitet. Zum Beispiel müssen sich die Fachleute, die für Pegel zuständig sind, mit denen zusammentun, die für Wetterprognosen zuständig sind.

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Schwer getroffen wurde der Ortskern von Oberhausen am Zöllerplatz. (Archivbild)

Ich würde Evakuierungen durchführen und lieber die Prügel beziehen, wenn ich die Leute für sechs Stunden aus ihren Häusern hole, und es ist nichts. Definitiv werden wir die Stadt besser aufstellen, etwa mit einer Stelle mit externer Stromversorgung in jedem Ort. Wir brauchen Rettungskräfte, die mit Booten arbeiten können. Wie brauchen Melder, um so schnell wie möglich ein differenziertes Lagebild zu erhalten.

Das alleine wird nicht reichen. Was fordern Sie von Kreis, Land und Bund?

Ich glaube, in unserem Behördensystem – gerade, je höher die Ebene ist – gibt es zu viele Menschen, die nicht mehr gewohnt sind, zu entscheiden. Zu häufig wird gefragt: Wer trägt die Verantwortung? Marcel Wolter und ich haben für uns entschieden: Wir übernehmen die Verantwortung und entscheiden – und tun in dieser Katastrophe auch Dinge, die beispielsweise über unseren finanziellen Verfügungsrahmen hinausgehen.

Meine Wünsche habe ich bereits beim Besuch von Ministerpräsident Armin Laschet und Finanzminister Olaf Scholz formuliert: Die Kostenübernahme für die Müllbeseitigung ist inzwischen geklärt. Es muss ein Rettungspaket für Private und Gewerbetreibende sowie Vermieter geben und massive Fördermittel für Gewässerwiederherstellungs- und Hochwasserschutzmaßnahmen.

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