Mit einer emotionalen Rede gegen die gemeinsame Abstimmung von Union und AfD im Bundestag machte sie Furore. Jetzt ist sie Co-Fraktionschefin der wiedererstarkten Linken – und erzählt, warum sie den Kapitalismus am liebsten stürzen würde.
Heidi Reichinnek„Heute muss man radikal sein“

Heidi Reichinnek (Die Linke)
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Berlin mag die Co- Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Bundestag nicht sonderlich – zu viel Zirkus. Dafür schwärmt die Osnabrückerin Heidi Reichinnek für den Sozialismus, nicht aber nach DDR-Vorbild. Auch für den Papst findet die 37-Jährige im Interview mit Burkhard Ewert lobende Worte, ebenso wie sogar ansatzweise für Donald Trump. Offenheit herrscht auch an anderer Stelle: Reichinnek will AfD-Anhänger für sich gewinnen.
Frau Reichinnek, was haben Sie eigentlich heute vor einem Jahr gemacht?
Vor einem Jahr? Oh, da muss ich mich erstmal sortieren. Vor einem Jahr lag meine Partei am Boden. Alle hatten uns abgeschrieben. Aber wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten, um Rio Reiser zu zitieren. Wir wollten uns nicht geschlagen geben nach der Abspaltung des BSW. Wir wollten angreifen.
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Hatten Sie einen Plan, um dort anzukommen, wo Sie sich jetzt befinden?
Wer die Spitzenkandidatur für eine Bundestagswahl macht, wussten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Es war ja nicht einmal klar, dass es vorgezogene Neuwahlen gibt. Also, kurz gesagt: Es gab keinen Plan. So etwas kann man auch nicht planen, glaube ich.
„Keine Macht für Niemand“ wäre ein weiteres Rio-Reiser-Zitat. Sie haben jetzt Macht. Was wollen Sie damit anfangen?
Wir sind die soziale Opposition im Bundestag. Wir werden die Themen setzen, die sonst unter den Tisch fallen: Mietendeckel, sozialer Wohnungsbau, gerechte Löhne und Renten. Da werden wir eigene Lösungen anbieten und immer wieder laut im Parlament fragen, warum da nichts passiert. Wir bringen die Themen außerdem auch auf die Straße und werden mit unseren Bündnispartnern unter anderem einen Mietengipfel und einen Kita-Gipfel einberufen. Wir haben jetzt leider einen Kanzler, für den das Thema Kita nur Gedöns ist. Außerdem wollen wir den Menschen im Alltag helfen. Das tun wir auch schon, beispielsweise durch Sozialberatung oder sehr erfolgreiche Meldeportale wie unseren Mietwucher- oder Nebenkostenrechner. Sie helfen, sich zu viel gezahlte Miete oder Nebenkosten zurückzuholen. Insbesondere den Mietwucher-Rechner werden wir bundesweit ausbauen.
Sie haben nicht nur Macht, Sie sind auch beliebt, seit neuestem die nach Umfragen beliebteste Politikerin des Landes. Wie fühlt sich das an?
Es ist nicht so, dass ich als Person so beliebt bin, sondern die Inhalte meiner Partei sind es. Wenn die Leute an mich denken, wenn sie mich im Internet oder im Fernsehen sehen, dann bin ich da ja wegen der Inhalte, die ich vertrete.
Dann sind Sie außerdem auch demonstrativ bescheiden?
Ich glaube zumindest nicht, irgendetwas alleine gerissen zu haben. Ich wäre nicht, wo ich bin, wenn Zehntausende in meiner Partei nicht getan hätten, was sie getan haben, im Wahlkampf und an anderer Stelle. Ich habe meinen Teil dazu beigetragen, und zusammen haben wir das auch ganz gut gemacht. Aber letztlich war ich nur ein Puzzleteil.
Trotzdem werden sie bekannter und sind es geworden. Die Zahl der Follower nähert sich der Million, und in Verbindung mit den phänotypischen Merkmalen und der markanten Schnellsprechsprache fragt sich, wie viel ist da Politik, wie viel ist Popstar?
Was ich verkörpern möchte, ist etwas Ehrliches, auf Augenhöhe. Ich habe in der Jugendhilfe gearbeitet und erlebt, wie Kinder und Jugendliche von diesem Staat alleine gelassen werden, wie sie in der Schule nichts zu essen haben oder nicht zu Klassenfahrten können, weil diese für ihre Familien unbezahlbar sind. Ich bin bodenständig. Die ganze Linke ist das. In unserer Bundestags-Fraktion finden Sie Pflegekräfte und Ärzte, einen Kfz-Mechaniker, einen Forstwirt, jemanden, der bei VW am Band stand und jemanden aus einem Stahlwerk, Alleinerziehende, eine Friseurin. Solche Leute kennen die Lebenswelten der Menschen und lassen sich nicht davon blenden, was in Berlin so an Polit-Zirkus passiert. Sie sehen, was im Land geschieht, dass Menschen aus ihren Wohnungen gedrängt werden, dass die Kliniken schließen. Das wollen wir ändern und wir lassen uns dabei übrigens auch nicht kaufen. Wir sind die einzige Partei, die keine Spenden von Großkonzernen annimmt. Das alles zusammen macht den Unterschied, nicht ich alleine.
Zur Lebenswelt der Menschen zählt auch die Angst vor Krieg. Da hat die Linke eine andere Position als fast alle anderen Parteien. Drücken Sie Donald Trump für seinen Ukraine-Friedensplan die Daumen?
Ich glaube nicht, dass irgendjemand in meiner Partei Donald Trump die Daumen drückt. Schon gar nicht für einen Diktatfrieden, der über ukrainische und europäische Köpfe hinweg entschieden wird. Aber immerhin hat er für Bewegung in Sachen Verhandlungen gesorgt. Als Linke haben wir immer gesagt, dass es mit Blick auf die Ukraine Optionen gibt, die zwischen den beiden Polen liegen, entweder nichts zu tun oder aber Waffen zu liefern. Die hätten von Anfang an stärker in den Fokus rücken müssen – auch jetzt noch. Nachdem Wladimir Putin diesen Angriffskrieg befohlen hat, hätten wir die innerrussische Opposition stärken sollen. Es gab ja Demonstrationen in Russland. Wir hätten auch russische Deserteure aufnehmen sollen, was die alte Regierung übrigens angekündigt und nie umgesetzt hat. Das zweite ist, Druck auf die Oligarchenkaste ausüben und zum Beispiel deren Immobilien in Deutschland zu beschlagnahmen. Drittens hätte man auf internationale Initiativen eingehen sollen, wie aus China. Man kann viel Kritik an den Chinesen üben, aber hier hätten sie helfen können. Wenn die rufen, kommt Putin auch. Stattdessen ging es in Deutschland immer nur darum, welches Waffensystem als nächstes geliefert werden soll. Dieser Weg hat ganz offensichtlich nicht funktioniert.
An diesem Punkt ist Ihre Position nicht weit von der AfD entfernt. Stört Sie das?
Wir sind sehr weit entfernt von der AfD. Die AfD ist keine Friedenspartei. Sie läuft einem Diktator hinterher, der ein System aufgebaut hat, das sie selber gerne auch in Deutschland hätte. Wir stehen außerdem an der Seite der Menschen, die grundsätzlich Frieden wollen. Die AfD nicht. Sie redet davon, fünf Prozent des Haushalts für das Militär auszugeben – purer Aufrüstungswahn! Sie hatte bisher auch kein Problem damit, bei Auslandseinsätzen zuzustimmen. Wer uns in die Nähe der AfD schiebt, verkennt das oder versucht, unsere Position zu delegitimieren.
Sie haben gesagt, die AfD sei ihr politischer Gegner, nicht deren Wähler. Verstehen Sie das als ausgestreckte Hand?
Ich möchte in der Tat auf die Menschen zugehen, die die AfD wählen, und sie überzeugen. Wer ein geschlossenes, rechtsextremes Weltbild hat, an den komme ich wahrscheinlich nicht heran. Da braucht es andere Mittel. Aber viele Menschen wählen die AfD auch aus Frust über die herrschende Politik. Ohne diesen Menschen eine Absolution erteilen zu wollen: Sie haben aus ihrer Logik heraus Gründe für ihre Entscheidung, und oft sind das soziale oder wirtschaftliche Sorgen. Da könnte man mit einer guten Sozialpolitik ansetzen, und das wollen wir als Linke, etwa bei der Rente, bei öffentlicher Daseinsvorsorge, bei den Löhnen. Wenn es nicht gelingt, hier ein überzeugendes Angebot zu unterbreiten, wenden sich die Menschen gegen das System.
Gegen das System geht die Linke erklärtermaßen selbst vor. Würden Sie sich als radikal bezeichnen?
Was ist denn radikal? Ich will nicht, dass einige wenige Menschen immer reicher werden und ein immer größerer Teil der Bevölkerung verarmt, und ich will, dass Menschenrechte für alle gelten. Wenn das radikal sein soll, dann gelte ich gern als radikal. Dann ist unser Grundgesetz es aber auch, denken sie nur an „Eigentum verpflichtet“ oder die durchaus darin vorgesehene Vergesellschaftung von beispielsweise Wohnungskonzernen. Ich sage es ganz klar: In den heutigen Zeiten muss man radikal sein, der Sozialstaat wird immer weiter ausgehöhlt, der Reichtum von wenigen explodiert, die Demokratie ist auch dadurch ernsthaft bedroht. Wer das verhindern will, der darf den Kapitalismus nicht stützen, er muss ihn stürzen. Er muss sich dagegenstemmen und die Systemfrage stellen, ganz klar.
Wie gesagt: Das System infrage zu stellen, ist durchaus radikal.
Wenn ich ein Wirtschaftssystem habe, das zu einer Situation führt, die wir gerade sehen, mit Kinderarmut, mit Altersarmut, dann muss ich mich doch fragen, ob der Kapitalismus ein System ist, das funktioniert.
Sie sagen nicht Sozialismus …
… kann ich aber gerne. Wir stehen als Linke für das Ziel des demokratischen Sozialismus.
Der ist im Zweifel nicht an jeder Stelle freiheitlich, oder?
Doch, durchaus, wenn er eben demokratisch ist, und nur damit es keinen Zweifel gibt: in der DDR gab es keinen demokratischen Sozialismus. Uns wird ja immer vorgeworfen, Nachfolgepartei der SED zu sein. Das stimmt, aber wir hatten eine historische Kommission, die die Fehler eindeutig benannt und aufgearbeitet hat. Das unterscheidet uns von Parteien wie CDU oder SPD, die sehr gerne die Kader aus der SED aufgenommen haben, ohne das aufgearbeitet zu haben. Da wird viel geheuchelt. Die anderen Parteien haben die Strukturen und Leute aus der DDR dankbar 1:1 übernommen, um ihre Machtbasis auszubauen, aber eben keine Transparenz hergestellt.
Stichwort Transparenz – verraten Sie uns noch etwas über Heidi Reichinnek privat?
Was interessiert Sie denn?
Gerade wurde der Papst beerdigt – berührt Sie das?
Ich war lange Zeit Mitglied der Evangelischen Kirche und bin ausgetreten, weil ich letzten Endes halt nicht gläubig bin. Ich habe aber einen großen Respekt vor Religion. Sie ist vielen Gläubigen ein wichtiger und manchmal letzter Halt. Ich habe das immer wieder bei Menschen in der Sozialen Arbeit erfahren. Franziskus waren außerdem Punkte wichtig, die auch mir sehr wichtig sind, insbesondere der Kampf gegen Armut und Elend und auch das Thema Flucht. Das hat mir gefallen. Insofern tut mir sein Tod sehr leid. Ich hoffe, dass die Katholische Kirche seinen Weg weitergeht, zumindest an den Stellen, wo er sozial war.
Sie stammen aus Sachsen-Anhalt und leben jetzt schon länger in Osnabrück. Gefällt es Ihnen?
Unbedingt. Ich will dort auf gar keinen Fall wegziehen. Berlin ist nicht meins, trotz der Politik jetzt. Ich bin in Osnabrück sehr glücklich. Meine Mietwohnung habe ich schon seit zehn Jahren – mit ganz tollen Vermietern, übrigens. Einen Partner habe ich hier auch, auch wenn wir nicht zusammen wohnen und uns wegen des ganzen Trubels zuletzt weniger gesehen haben als sonst. Ich hoffe sehr, das ändert sich wieder!