Die USA ziehen ihre Militärhilfen für die Ukraine vorerst zurück. Wie könnte eine europäische Antwort auf den Kurs von US-Präsident Donald Trump aussehen? Die EU-Vizeparlamentspräsidentin fordert gemeinsame militärische Entscheidungen.
EU-Vize Katarina Barley„Wir sichern Europa, indem wir Kyjiw stärken“

Die Europaabgeordnete Katarina Barley (SPD)
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Katarina Barley, Vizepräsidentin des EU-Parlaments und SPD-Vorstandsmitglied, hatte schon vor einem Jahr – in Vorahnung auf Donald Trump – europäische Atombomben ins Spiel gebracht. Im Interview bezieht die Deutsch-Britin Position zur Lage Europas.
Frau Barley, Donald Trump geht auf Konfrontationskurs zur Ukraine und zu Europa. Halten Sie es für vorstellbar, dass er die Nato in Trümmer legt?
Sein drastisches Vorgehen war ein Stück weit vorhersehbar, Tempo und Wucht haben dennoch viele überrascht. Aber bei aller Schärfe im Ton: Transatlantische Beziehungen sind keine Einbahnstraße, es gibt ein vor und ein zurück. Europa muss eigene Antworten finden, aber gleichzeitig besonnen und strategisch im Dialog mit der US-Regierung bleiben.
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Dann ist die Sorge, die USA könnten Nato-Verbündete bei einem Angriff im Stich lassen, übertrieben?
Sagen wir es so: Wir müssen als Europäer eine strategische Autonomie gegenüber den USA herstellen, aber über den Verteidigungsbereich hinaus. Das wissen wir schon lange. Ich bin sehr froh über die aktive Rolle, die Briten-Premier Keir Starmer einnimmt. Ich sehe einen breiten europäischen Schulterschluss, das macht mich zuversichtlich.
Auch in Berlin tut sich Ungeahntes: Union und SPD wollen Schulden ohne Grenzen aufnehmen, um die Bundeswehr zu stärken und der Ukraine zu helfen. Geht das nicht viel zu weit?
Ganz und gar nicht. Die Einigung ist bahnbrechend. Es ist exakt das, was Deutschland jetzt tun muss. Trump vollzieht ja nicht nur bei der Sicherheit eine Kehrtwende, auch beim Handel, beim Klimaschutz. Wir leben in einer anderen Welt als vor der US-Wahl. Und darauf müssen wir mit all der Kraft reagieren, die wir haben. Deutschland ist bei weitem das Industrieland mit den gesündesten Finanzen und mit einer starken Wirtschaft. Wir müssen für das kämpfen, was wir haben, um es zu erhalten. Auch mit einem wuchtigen Investitionspaket für die Infrastruktur.
Okay, aber Verteidigungsausgaben ohne Limit: Wie konnte die Friedenspartei SPD zur Partei der Aufrüstung werden?
Weil Frieden und die Stärke, sich verteidigen zu können, heute leider zusammengehören. Wir haben im Osten einen Aggressor und im Westen einen unzuverlässigen Partner. Wer meint, wir müssten nichts ändern, mag Frieden wollen, aber er wird ihn nicht sichern können. Und zur deutschen Schuldenbremse: Das Urteil dazu aus Karlsruhe hat die Ampel-Regierung letztlich zum Scheitern gebracht. Im Rest Europas wird das als „very German crisis“ beschrieben. So starre Regeln für eine der stärksten Volkswirtschaften der Welt, und dann auch noch ein Urteil, das diese Regeln besonders strikt auslegt. Das hat bei allen unseren Partnern für großes Unverständnis gesorgt. Deswegen erwarte ich, dass die Grünen in der kommenden Woche im Bundestag die Entscheidung für mehr Sicherheit und mehr Investitionen mittragen. Wir sind ein starkes Land, wir können das leisten, und Europa erwartet es zu Recht von uns.
Wenn unsere Sicherheit bedroht ist, müssen wir dann nicht auch die Wehrpflicht wieder einführen?
Ich stehe voll hinter den Plänen von Verteidigungsminister Boris Pistorius. Er hat einen klugen Vorschlag gemacht, den wir jetzt umsetzen müssen. Wir werden dann sehen, ob das für eine ausreichende Zahl an Rekruten sorgt. Diese Debatte darf nicht nur national geführt werden. Ich bin überzeugt: Wir müssen uns auf den Weg zu einer europäischen Armee machen. Und damit meine ich mehr als gemeinsame Manöver: Es braucht gemeinsame Entscheidungen darüber, was von wem wofür gebraucht, beschafft und gebaut wird. Es gibt zwar erste gemeinsame Truppenstrukturen. Aber nüchtern betrachtet muss man sagen: Da ist noch viel zu wenig passiert, obwohl es schon seit vielen Jahren entsprechende Forderungen und Bekenntnisse gibt. Die Zeit ist vorbei, in der jeder nur auf seine spezifischen Bedürfnisse schauen kann. Wir brauchen schnellere, effizientere Prozesse und gemeinsame Systeme und Standards. Das spart nicht nur Zeit, sondern auch unfassbar viel Geld. Heute ist noch nicht einmal garantiert, dass die Leopard-Panzer der EU-Staaten die gleiche Munition verwenden. Wie kann das sein?
Weil in Militärfragen jeder auf maximale Souveränität pocht und sich nicht hineinreden lassen will ...
Ich kann nur an die Partnerstaaten appellieren, das Inseldenken zu überwinden. Souveränität heißt nicht Abschottung, sondern Handlungsfähigkeit. Wir müssen uns gemeinsam verteidigen, nicht jeder für sich. Das geht mit einheitlicher Beschaffung viel besser, weil wir dann einander helfen können. Dass der Ukraine-Krieg diesen Prozess nicht schon viel stärker in Gang gesetzt hat, ist ein gewaltiges Versäumnis für Europa.
Sie haben – in Vorahnung auf Trump – schon vor 13 Monaten eine europäische Atombombe zum Thema gemacht. Dafür gab es schärfste Kritik. Aber ist die Debatte nicht dringender denn je?
Nicht jedes Gespräch im militärischen Bereich muss auch in der breiten Öffentlichkeit ausgewalzt werden. Aber natürlich wird über die Zukunft der US-Atomraketen auf europäischem Boden diskutiert. Wir haben in der Nato die nukleare Teilhabe, die Verbündeten stehen also unter dem Schutz der Mitglieder, die Atomwaffen haben. Und so muss es auch bleiben, denn das ist die beste Absicherung.
Die EU hat sich am Donnerstag auf ihrem Gipfel in Brüssel zu sortieren versucht. Sind die Beschlüsse und Signale wirklich angemessen?
Die EU hat auf dem Gipfel ein starkes Signal der Solidarität mit der Ukraine gesendet. Klar ist, dass Europa einig und entschlossen handelt. Heute mehr denn je braucht die Ukraine verlässliche Unterstützung, finanziell, militärisch und politisch. Wir sichern Europa, indem wir Kyjiw stärken. Das geht nicht mit kurzfristiger Hilfe, sondern nur mit einer langfristigen Strategie. Die Beschlüsse des Gipfels machen das deutlich. Europa zeigt sich handlungsbereit. Die EU wird ihre Verteidigungsbereitschaft verstärken, strategische Abhängigkeiten weiter reduzieren und kritische Lücken in der Ausrüstung schließen. Die gemeinsame Beschaffung soll verbessert, die Produktionskapazität erhöht und die Lieferung von Waffen und Munition beschleunigt werden. Es ist also viel in Bewegung. Wichtig ist jetzt vor allem, dass wir entschlossen bleiben und unseren Kurs halten.
Defense Bonds, also gemeinsame Verteidigungs-Anleihen, wird es nicht geben. Wäre das nicht die eigentliche Botschaft gewesen?
Die EU-Kommission hat verschiedene Werkzeuge aufgezeigt, weil nicht jedes Werkzeug für jedes Land passt. Deutschland kann sich sehr günstig Geld am Markt leihen und benötigt keine Gemeinschaftsanleihen. Uns kommt die vorgeschlagene Flexibilisierung des Euro-Stabilitätspaktes zugute, um die Pläne von Union und SPD umzusetzen.
Trotz aller europäischer Solidarität: Die Ukraine wird ohne US-Hilfe noch härter in die Defensive geraten. Müssten die Europäer Wolodymyr Selenskyj nicht klarer machen, dass sie die Amerikaner nicht ersetzen können und er deswegen auf Putin zugehen muss, bevor alles noch immer schlimmer wird?
Präsident Selenskyj weiß besser als jeder andere, wie die Lage ist. Es ist sein Land. Es sind die Kinder, die Frauen und Männer der Ukraine, die sterben. Unsere Ratschläge braucht er nicht, sondern unsere maximale militärische und diplomatische Unterstützung, auch um sich Gehör bei Donald Trump zu verschaffen. Ich habe die Hoffnung noch längst nicht aufgegeben, dass die USA der Ukraine beistehen werden.