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Religionssoziologe im InterviewWarum die Kirchen an Bedeutung verlieren

Lesezeit 4 Minuten
ARCHIV - 22.09.2022, Niedersachsen, Osnabrück: Blick auf einen nahezu leeren Altarraum. Die Zahl der Kirchenaustritte in Nordrhein-Westfalen ist im vergangenen Jahr in die Höhe geschnellt. Im Jahr 2022 habe die Gesamtzahl der Austritte 223 509 betragen, teilte das Justizministerium in Düsseldorf am Donnerstag der Deutschen Presse-Agentur mit. (zu dpa: «Zahl der Kirchenaustritte in NRW schnellt in die Höhe») Foto: Friso Gentsch/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Leere Bänke in den Kirchen. Die Zahl der Kirchenaustritte in Nordrhein-Westfalen ist im vergangenen Jahr in die Höhe geschnellt. Foto: Friso Gentsch/dpa

Rekordzahlen bei den Kirchenaustritten. Was sind die Gründe? Und wie müssten die Kirchen darauf reagieren? Antworten von Religionssoziologe Prof. Detlef Pollack. 

Wenn Amtsgerichte neue Termine für Kirchenaustritte anbieten, sind sie oft nach einem halben Tag vergeben. Die Zahl der Austritte ist 2022 offenbar noch mal stark gestiegen. Wie erklären Sie diese Dynamik?

In der Abwendung von den Kirchen drückt sich ein Säkularisierungstrend aus, der seit Jahrzehnten läuft. Mehr und mehr Menschen halten Religion, Kirche und Glauben in ihrem Leben nicht mehr für wichtig. Sie sagen, dass sie Religion nicht brauchen, mit dem Glauben nichts mehr anfangen können und ihnen die Kirche gleichgültig geworden ist. Im Vergleich dazu, wie gut sie ihre Interessen und Wünsche im Beruf und in ihrer Freizeit verwirklichen können, erscheint ihnen die Beschäftigung mit religiösen Fragen schlichtweg als irrelevant und unattraktiv. Eine Rolle spielt aber auch, dass viele Menschen die Kirche unglaubwürdig finden und wenig Vertrauen in sie haben. Das betrifft insbesondere die katholische Kirche, wobei hier vor allem die Missbrauchsfälle, die Ablehnung von Homosexualität sowie die Ungleichbehandlung von Mann und Frau zu Buche schlagen. Hinzu kommt, dass von der Austrittsbewegung ein sich selbst verstärkender Effekt ausgeht, der durch die kirchenunfreundliche Berichterstattung noch einmal angeheizt wird: Je mehr austreten, desto weniger muss man den eigenen Austritt rechtfertigen. Und die berechtigte, aber manchmal doch auch unberechtigte Empörung über das Verhalten der Kirchenoberen verschafft einem noch zusätzlich ein gutes Gewissen.

Der verstorbene Kölner Kardinal Joachim Meisner verwies gern auf das sechste Kapitel des Johannesevangeliums: Viele gehen, die Überzeugten bleiben, und so geschrumpfte Kirchen würden dann vielleicht eine größere Wirkung erreichen als die heutigen …

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Das ist eine fromme Hoffnung: Nur die ohnehin Distanzierten verlassen die Kirche, die Hochverbundenen bleiben. Nein. Gerade bei den Katholiken sehen wir, dass auch Menschen, die kirchlich erzogen wurden und noch vor kurzem eine beachtliche kirchliche Bindung besaßen, der Kirche den Rücken kehren. In den letzten Jahrzehnten ist die Zahl der Kirchenmitglieder immer kleiner geworden, aber die Intensität des religiösen Engagements derjenigen, die geblieben sind, hat sich nicht erhöht.

Gibt es eigentlich ähnliche Distanzierungs- und Abwendungsprozesse hier zu Lande auch – beispielsweise – bei Muslimen?

Der Islam kennt keine alle Muslime und Musliminnen erfassende Organisation, aus der man austreten könnte. Viele derjenigen, die aufgrund ihrer Herkunft als Muslime gezählt werden, stehen den Moscheegemeinden durchaus distanziert gegenüber, nehmen an den Freitagsgebeten nicht teil und beten auch persönlich nicht. Insgesamt aber ist das Niveau der Religiosität unter den Muslimen höher als bei den Christen.

Wichtig ist, dass die Kirchen nahe bei den Menschen sind.
Detlef Pollack

Wenn jemand in den Islam hineingeboren wurde, gilt er oder sie als muslimisch, egal, ob man in die Moschee geht oder irgendwo Mitgliedsbeiträge zahlt. Aber ohne Kirchensteuerzahlung wird man nicht als katholischer oder evangelischer Christ akzeptiert. Müssten die Kirchen sich hier ändern? Oder hilft alles nichts mehr, weil auch die Taufquote so stark sinkt?

Die Kirchensteuerersparnis ist zwar ein wichtiges Motiv des Kirchenaustritts, aber auch eine Verminderung oder Aussetzung der Kirchensteuer würde die weitaus meisten der Austrittswilligen nicht davon abhalten auszutreten. Das wissen wir aus der letzten Befragung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD. Im Übrigen haben Sie recht: Der Kirche gehen viele auch dadurch verloren, dass Eltern, die der Kirche angehören, ihre Kinder nicht zur Taufe bringen und sie nicht religiös erziehen.

Was können die Kirchen dann überhaupt noch tun?

Wichtig ist es, dass die Kirchen nahe bei den Menschen sind, sich für ihre Probleme interessieren, zuhören, Seelsorge betreiben, Belehrungen vermeiden und sie bei den Umbrüchen ihres Lebens, freudigen ebenso wie traurigen, begleiten.

Für die Kirchen ist der Mitgliederverlust natürlich dramatisch. Aber wird auch dem Rest der Gesellschaft etwas fehlen, wenn das so weitergeht?

Sehr viele zentrale christliche Ideen und Werte sind längst in unsere Gesellschaft eingewandert und haben sie verändert. Denken wir an Werte wie Solidarität, Fairness, Frieden oder auch Authentizität. Wenn die kirchlichen und religiösen Bindungen schwächer werden, nimmt vielleicht das zwischenmenschliche Vertrauen oder auch die Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement etwas ab. Starke Effekte erwarte ich nicht.

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