„Legenden aus Kalk“Als eine persische Prinzessin in einem Dönerladen Deutsch lernte

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Veedelschreiber Kalk

Jonas Linnebank (v.) und Alexander Estis (h.) lesen aus den Kalker Legenden.

Köln-Kalk – Immerhin sei Kalk ja seit ungefähr 1000 Jahren ein Wallfahrtsort, ob ihm die Menschen auf der Straße auch dazu etwas erzählt hätten, fragt eine Zuhörerin gegen Ende der Lesung im  Keller der Sünner-Brauerei. Alexander Estis hat gleich zwei Geschichten aus seinem Band parat. Die eine handelt vom  frommen Mariechen, das immer auf die andere Straßenseite wechselte, wenn ihr ein Protestant entgegenkam. In der zweiten terrorisiert eine exzessiv frömmelnde Mutter ihre Kinder ungewollt mit hysterischen  Anfällen, wenn sie in der Karwoche meint, die Schmerzen Jesu am eigenen Leib zu verspüren.

Monströse Geschichten

Und dann verdoppelt sich dieser Terror in manchen Jahren noch, „weil katholische und orthodoxe Karwoche nicht immer zusammenfallen – und meine Mutter besucht beide Kirchen“, erzählt „Magda“. Manchmal sind es Alltagsbeobachtungen, die Estis in seinen „Legenden aus Kalk“ versammelt hat,  öfter noch skurrile, gar surreale, nicht selten monströse Geschichten.

Geradezu Herzzerreißendes auch, wie die Erzählung von „Tereza“, die mit den Sätzen „Kalk Post haben die mich vergewaltigt. Neun Männer, die haben sich abgewechselt“ beginnt, um genau vier Sätze später bei der Feststellung „Sind auch schöne Sachen passiert, muss ich auch ehrlich sagen“ zu landen.

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Kein verklärender Blick auf Kalk

Ein idealisiertes, romantisierendes Bild mit Zusätzen von Arbeiterviertel-Folklore zeichnet Alexander Estis jedenfalls ganz und gar nicht. Repräsentativ für das ganze Viertel sollen die versammelten Geschichten ausdrücklich nicht sein. Doch man wundert sich schon, wie unterschiedlich die Einstellungen und Perspektiven der Menschen sind, die er – mit dem Blick des Literaten - meist spontan und intuitiv angesprochen und gebeten hat, eine persönliche Geschichte über Kalk zu erzählen. Die hat Estis häufig noch überarbeitet, Namen und andere, leicht identifizierbare Details verändert.

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Als „Veedelsschreiber“ unterwegs war er im Rahmen des gleichnamigen Projekts, das die Stiftung Kalk Gestalten gemeinsam mit dem „Ostblog Kalk“, einer Initiative der Sozialraumkoordination Kalk, des Integrationshauses, der Geschichtswerkstatt und des Kunts e. V. ins Leben gerufen hatte. Finanziert wurde es über das Programm Starke Veedel – starkes Köln.

Köln-Kalk als Veedel mit vielen Facetten

Vorgesehen war zunächst eine Dauer von knapp zwei Monaten, doch Alexander Estis, der in Moskau geboren wurde, in Norddeutschland aufwuchs und seinen Wohnsitz in der Schweiz hat, befasste sich intensiv mit dem Thema, blieb ein knappes Jahr. Was im voll besetzten Sünner-Keller natürlich für viel  Applaus sorgte. Ob er denn nach all den Monaten den Stadtteil Kalk auf einen Begriff bringen, ihn in einem Satz zusammenfassen könne, wird der Autor gefragt.

Nein, antwortet der, mit jedem Gespräch sei das schwieriger geworden, sei ihm bewusster geworden, wie viele Facetten so ein Veedel hat. An ein Kaleidoskop oder ein Mosaik erinnere ihn das. Man könnte auch an eine Collage denken, bei der die einzelnen Bestandteile ja nicht zueinander passen, sondern häufig ohne Übergänge scharfkantig nebeneinander gestellt sind, und gerade in ihrer Unterschiedlichkeit belassen ein interessantes, manchmal faszinierendes Ganzes ergeben.

Schauspieler heiratet eine Tote; persische Prinzessin lernt im Dönerladen deutsch

So finden wir in dem 80-Seiten-Bändchen einen Schüler, der das Nachsitzen vermisst, einen Schauspieler, der eine Tote heiratet, oder einen Ehrenamtler, der einer persischen Prinzessin in einem Dönerladen Deutschstunden gibt. Da tauchen plötzlich Menschen mit Macheten in einem Garten auf, ein ungeschickter Einbrecher will im Schutz einer Matratze einen Kiosk ausrauben. Ein anderer fragt sich, was er mit der Atombombe anstellen soll. Auch Prostituierte, Obdachlose und die Jungs aus dem Miljö haben ihre Auftritte.

Ein multi-ethnisches, wüst-modernes, aber auch anrührendes Personal ist hier zu bestaunen, dessen Treiben zuweilen poetische Dichte erreicht. Als Estis gefragt wird, wie er Kalk im Vergleich zu Ehrenfeld sieht, das er ebenfalls kennt, sagt er, dass Kalk noch deutlich „wilder“ sei als der vergleichsweise gentrifizierte Hipster-Stadtteil. In den „Legenden aus Kalk“ scheint eine  ungebärdige, ungerichtete Dynamik auf, die ältere Bewohner längst  nostalgisch werden lässt: „Wir wollen unser Veedel wiederhaben“, sagt „Hildegard“. „Auch kneipenmäßig.“

Die „Legenden aus Kalk“ sind im Verlag Parasitenpresse erschienen und ab sofort für zwölf Euro erhältlich. Im Kalker Buchladen kann man vielleicht sogar ein signiertes Exemplar erstehen.

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