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Kriseneinsatz in MerheimHier werden in Köln Kriegsopfer aus der Ukraine behandelt

7 min
Mit dem dem MedEvac-Airbus der Bundeswehr, einer fliegenden Intensivstation, wurden einige der ukrainischen Patienten nach Köln geflogen.

Mit dem dem MedEvac-Airbus der Bundeswehr, einer fliegenden Intensivstation, wurden einige der ukrainischen Patienten nach Köln geflogen.

Das Krankenhaus Merheim behandelt Kriegsopfer aus der Ukraine. Ärzte bewältigen komplizierte, infizierte Verletzungen mit interdisziplinärer Zusammenarbeit und intensiver Nachsorge.

Immer, wenn ein Flugzeug über das Krankenhaus flog, wurde sie wach. Egal ob es mitten in der Nacht und sie übermüdet war – und obwohl die 16-Jährige tausende Kilometer von der Ukraine entfernt in einem Bett in Köln lag. Schützend zog sie ihre Decke hoch an ihr Gesicht, sobald sie Triebwerke am Himmel über Merheim hörte. Bis die Erinnerungen an den Angriff verblassten, lag sie teils stundenlang schlaflos da. In der Angst, dass der Tag, an dem ein russisches Kampfflugzeug sie aus dem Leben riss, sich wiederholen könnte.

Es war auf dem Weg zur Schule, als sie die Maschine hörte. Auf das Geräusch folgte eine Explosion mit großer Zerstörungskraft. Das Flugzeug warf einen Sprengkörper ab, der unzählige scharfe Metallsplitter in hoher Geschwindigkeit umherschleuderte, als er auf den Boden ihrer Heimat aufschlug. Einer der Splitter traf sie am Schädel und bohrte sich bis in ihr Gehirn. Doch die Ukrainerin überlebte. Rund vier Wochen nach dem Angriff wurde sie im Rahmen eines medizinischen Evakuierungsprogramms der EU nach Deutschland ins Krankenhaus Merheim geflogen. Das Metallteil steckte da noch in ihrem Kopf.

Wir haben viele offene Brüche und offene Wunden gesehen, Verletzungen am Bauch, an der Brust, am Gesicht oder dem Hirn.
Prof. Dr. Bertil Bouillon

Einer ihrer behandelnden Ärzte ist Prof. Dr. Bertil Bouillon. Der Kölner ist seit über 20 Jahren Unfallchirurg im Krankenhaus Merheim und hat dementsprechend viel gesehen. Doch der Fall der ukrainischen Teenagerin hat Eindruck hinterlassen: „Das werde ich nie vergessen“, sagt der Mediziner und Direktor der Klinik für Orthopädie, Unfallchirurgie und Sporttraumatologie.

Bei Überlastung ihrer Krankenhäuser können Staaten über die EU um Hilfe bitten. Welche Patienten zum Beispiel aus der Ukraine evakuiert werden, entscheidet das dortige Ministerium für Gesundheit. Organisiert wird die Verteilung der Verletzten über das EU-Katastrophenschutzverfahren, an dem auch Deutschland beteiligt ist.

Insgesamt 34 Personen wurden seit Beginn der russischen Vollinvasion über das EU-Programm in das Krankenhaus Merheim gebracht. Bouillon hat ihre Behandlung maßgeblich mit organisiert. „Es waren einzelne Soldaten dabei, die tatsächlich im Gefecht verletzt wurden. 80 Prozent der Patienten waren aber Zivilisten, und zwar jeden Alters. Der Jüngste war zwölf und dann ging es bis ins hohe Alter, wir hatten auch 80-Jährige“, erklärt er.

Hunderte Verletzte sollen aufgenommen werden können.

Hunderte Verletzte sollen aufgenommen werden können.

Während die Krankenhäuser in der Ukraine damit beschäftigt sind, das Überleben der Menschen fürs Erste zu sichern und sie so gut es geht zu stabilisieren, haben Ärztinnen und Ärzte in anderen Ländern mehr Ressourcen, um Schritte auf dem Weg zur Rehabilitierung zu gehen. Sie versorgen große Wunden, machen aufwendige Tests und Scans, kümmern sich um komplizierte Operationen oder fertigen Prothesen an.

Meist Explosionsverletzungen

„Schussverletzungen gibt es im Krieg eher selten. Im Wesentlichen hatten die Patienten Explosionsverletzungen mit dadurch entstandenen Verbrennungen“, erklärt Bouillon. „Wir haben viele offene Brüche und offene Wunden gesehen, Verletzungen am Bauch, an der Brust, am Gesicht oder dem Hirn.“ Die meisten der Wunden entstanden durch Splitterbomben, wie sie auch die ukrainische Teenagerin trafen. Bis zu 1,5 Zentimeter lang waren die Teile, die Bouillon in den Verletzten vorfand. „Wir hatten Patienten, bei denen haben Röntgenaufnahmen gezeigt, dass sie 30 oder 40 dieser Metallteile im Körper hatten.“

Doch damit nicht genug: „Alle, also wirklich alle Wunden waren infiziert. Und das waren keine Keime, die man hier kennt, sondern solche, die man in einem Krankenhaus wirklich nicht haben will.“ Die starke Keimbesiedelung der Wunden machte die Operationen extrem aufwendig. Meistens wurden die betroffenen Personen mehrmals operiert, um zu versuchen, das infizierte Gewebe zu entfernen. Nach jeder einzelnen OP waren mehrere Stunden der gründlichen Reinigung nötig.

Das Krankenhaus Merheim ist ein sogenannter Maximalversorger, hat also über 700 Betten und bietet ein breites Spektrum an speziellen medizinischen Leistungen, unter anderem eines der größten Zentren für Schwerbrandverletzte in Deutschland. Bei schweren Unfällen ist es daher eine wichtige Anlaufstelle. So wurden auch viele Überlebende des Tsunamis in Thailand vor mehr als 20 Jahren zur Behandlung nach Merheim geflogen. Die ukrainischen Patienten stellten das Team jedoch vor neue Herausforderungen. „Das sind Verletzungen, die wir Gott sei Dank alle nicht mehr kennen“, erklärt Bouillon. Über die Fachgesellschaft der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie nahmen einige Ärzte des Teams deshalb an intensiven Fortbildungen teil. „Dabei haben wir sehr viel von den Kollegen der Bundeswehr-Krankenhäuser lernen dürfen, die uns erklärt haben, mit welcher Art von Verletzungen wir es eigentlich zu tun haben.“

Im Überregionalen Traumazentrum des Krankenhauses arbeiten zahlreiche Disziplinen Hand in Hand, unter anderem die Anästhesie, Unfallchirurgie, Viszeralchirurgie, Neurochirurgie, Thoraxchirurgie, Plastische Chirurgie und Verbrennungsmedizin, Radiologie und Hygiene. Genau derartiges fachübergreifendes Zusammenarbeiten war für die Behandlung der komplexen Verletzungen der ukrainischen Patienten zwingend erforderlich. „Sie haben in so einer großen Klinik natürlich den Riesenvorteil, dass man sich gut mit Kollegen austauschen kann“, sagt Prof. Bouillon.

Im Falle der 16-jährigen Ukrainerin war unter anderem auch die Neurochirurgie mit dem Mediziner Prof. Dr. Makoto Nakamura stark gefragt. Das Metallteil hinderte sie weder am Denken noch am Sprechen. Den Splitter also da lassen, wo er ist? Das Neuro-Team entschied sich für eine Entfernung. In einer aufwendigen OP holte es das scharfe Teil aus dem Kopf der Teenagerin, weil die Ärzte befürchteten, es könnte sich bewegen und dabei Schaden anrichten. Schwierige Entscheidungen mussten auch bei den meisten anderen getroffen werden. Immer wieder stellte sich den Ärzten eine Frage: Gibt es eine Chance, das betroffene Körperteil zu retten, oder muss amputiert werden? „Ich erinnere mich auch an einen ehemaligen Profifußballer, der eingezogen wurde und schlussendlich beide Beine verloren hat durch diesen sinnlosen Krieg.“

Solche Patientengespräche seien nie einfach, erklärt Prof. Bouillon. „Wenn Sie solche komplexen medizinischen Situationen auf Deutsch erklären, ist das schwierig genug.“ Nur wenige der Patienten konnten Englisch, teils musste das Team deshalb notgedrungen auf den Übersetzer von Google ausweichen. „Wir hatten immer wieder Mitarbeiter, die Russisch oder Ukrainisch können und sich dann hochgradig engagiert haben.“ Zusätzlich arbeitete das Team mit dem deutsch-ukrainischen Verein Blau-Gelbes-Kreuz (BGK) aus Köln zusammen, der Personen zur Übersetzung schickte. „Und die Stadt hat uns auch Übersetzer zur Verfügung gestellt.“

Probleme mit der Einsamkeit

Und nicht nur unter körperlichen Wunden litten die Patienten: „Es gab nicht einen, der nicht traumatisiert war“, erinnert sich Bouillon. Flashbacks an die russischen Angriffe verfolgten sie. „Ein besonderes Problem war, dass wir mitten in einer Einflugschneise des Köln-Bonner Flughafens liegen. Immer wenn Flieger kamen, hatten sie die Assoziation, dass jetzt eine Bombe kommt.“

Das BGK organisierte deshalb ukrainischsprachiges psychologisches Fachpersonal, dass den Patienten vor Ort half. Den emotionalen Traumata der Verletzten schlossen sich außerdem Gefühle der Einsamkeit an. „Die Hälfte kam völlig allein. Auch da hatten wir große Hilfe vom Blau-Gelben-Kreuz, das peu à peu immer institutioneller diese Patienten begleitet hat.“

Die Fälle der ukrainischen Verletzten gingen nicht spurlos am Team des Krankenhauses vorüber. „Wir hatten nie mehr als vier oder fünf Patienten gleichzeitig hier. Deshalb waren wir mit ihnen viel in persönlichen Gesprächen und bekamen die Betroffenheit mit.“ Die Nachrichten über den Krieg in der Ukraine nahmen Gestalt an, wurden greifbar: „Wir haben die Einzelschicksale hautnah über mehrere Wochen erlebt. Gerade die allererste Serie von Patienten war sehr eindrucksvoll. Was kann ein Mädchen auf dem Schulweg für den Krieg? Das hat uns alle mitgenommen. Wir sind natürlich sehr professionell, aber trotzdem nimmt jeder sein Stück mit nach Hause und denkt über diese Dinge nach. Immer wieder kommt dabei die Frage nach dem Wieso auf, weil das alles so sinnlos ist. Und die Ohnmacht, weil man an der Situation nichts ändern kann.“

„Viele wollen in ihre Heimat zurück“

Manche der ukrainischen Patienten blieben nach der Behandlung in Deutschland. Die Militärangehörigen unter ihnen mussten in die Ukraine zurückkehren. Und wieder andere gingen freiwillig: „Ganz viele wollten unbedingt in ihr Heimatland zurück. Sie sind so heimatverbunden, dass sie ihre Leute nicht allein lassen wollen. Was man auf der einen Seite gut verstehen kann, auf der anderen Seite haben sie gerade erst überlebt.“

Für das Team des Krankenhauses Merheim bleibt nach der Entlassung der Patienten unter anderem die Gewissheit, an der Herausforderung gewachsen zu sein – fachlich, organisatorisch und zwischenmenschlich. „Ich glaube, wir haben in den letzten Jahren dadurch ganz viel gelernt. Trotzdem will keiner von uns, dass sowas nun häufiger passiert.“